

Halil Celiksoy
Die deutsche Rechtschaffenheit
Die Wandlungsfähigkeit der deutschen Debattenkultur kann man loben oder verfluchen. Aber eines ist unbestreitbar: Sie hat Erkennungswert. In der globalen Politik hat das deutsche Wort die Gestaltungsmacht verloren, dafür aber glänzt es mit Eigenart. Und die steht und fällt mit sich gegenseitig entfachenden politischen Treibern, dessen Hauptquellen zugleich das Dreieck der wandelbaren Moralität bedeutet. Was gestern verwerflich war, kann heute zum Grundstein der europäischen Idee gehören. Inzwischen hat sie sich zum Maßstab der Rechtschaffenheit entwickelt, an dem kein Zweifel zu bestehen scheint. Da will der gutgläubig-durchschnittliche, vorwiegend deutsche Rezipient selbst den offenkundigen Genozid an unschuldigen Menschen in Gaza übersehen haben. Ist ja auch verständlich, wenn Menschen wie Olaf Scholz den Begriff der deutschen Staatsräson unermüdlich durch die Medien hauchen.
Das Schwert der Heuchler-Demokraten
Jetzt wo der Friedens-Kriegs-Kanzler der politischen Präsenz weitgehend entflohen ist, ist die heilige deutsche Dreieinigkeit im Begriff, einen sensationellen Richtungswechsel anzudeuten. Und die kommt ausgerechnet vom brandneuen Kanzler Friedrich Merz. Man muss eben Unterschiede setzen, Erkennungswerte schaffen. Klare Worte braucht es dafür. Dieses subversiv anmutende Manöver in der aktuellen politische Stimmung der romantisierenden Kriegshaltung bedeutet vermutlich noch mehr als ein taktischer Tiefschlag. Es soll Merz zu dem Kanzler machen, der das gewohnte Konzept der unbedingten Unterstützung Israels endgültig beendet. Ganz im Sinne Trumps, der als Vermittler zwischen der Türkei und Israel fungieren möchte und Netanyahu wie einen Grundschüler auf seinen Platz verwiesen hat. Und das kommt einer landesweiten Erschütterung gleich. Gleich zum Start seiner Kanzlerkarriere stellt er unmissverständlich klar, dass Israelkritik möglich sein muss und dass Sinn und Ziel der sogenannten Offensiven nicht mehr gegeben sind. Bis dahin hielt das rhetorisch instabile Konstrukt der Staatsräson das Netzwerk des „Zurechtredens“ die Kriegslust bei Laune.
Europa kann demokratisch Mord betreiben
Und Staatsräson ist,.. wie soll man sagen,.. eine Art Endgegner. Im Kern bedeutet sie Verantwortung für die eigene Geschichte. Zuletzt aber diente sie der grünroten Regierung als eine Art pelianisches Schwert der Heuchler-Demokraten, die lediglich die Demokratie ihres eigenen Drehkreises kennen. Das Drehkreis politischer Interessen. Und dabei wurde auf grausame Weise klar, wie leicht es geworden ist, Massenmord zu rechtfertigen, eine ganzes Volk umzusiedeln, zu vertreiben und auszubomben. Mithilfe der deutschen Regierung wurde eine ganze Maschinerie der Menschenverachtung in Gang gesetzt. Ausgeführt von einem Volk, das diese Barbarei durch Existenzrecht und Terrorbekämpfung rechtfertigt. Menschenrechtsorganisationen waren nun plötzlich Handlanger der Hamas und Stars und Künstler, die sich kritisch gegenüber Israel äußerten wurden über Nacht zu Antisemiten. Morde an palästinensischen Flüchtlingen und Anschläge auf Krankenhäuser in Gaza wurden als militärisch-operative Fehler entschuldigt. Und wieder einmal wird in einem halben Jahrhundert eine grundsätzlich deutsche Frage keine passende und rechtfertigende Antwort finden: Wie konnte das passieren?