Kultur/Menschen

Neues Internetphänomen in der Türkei. Wer ist der “verrückte Eismann”?

In der Türkei ist ein Internethype um einen Eisverkäufer entstanden, der ein ganz besonderes Marketing für sein Eis entwickelt hat. Es wirkt unpolitisch, ist aber Spiegel für das Gemüt einer Nation, das sich im sozio-kulturellen Umbruch wie kaum eine andere befindet. Wer ist dieser Mann und warum wird er derart gefeiert?

Irgendwo in Antalya haben vorbeiziehende Menschen einen Halbkreis um eine Eisdiele gebildet und filmen mit dem Smartphone ein aufsehenerregendes Spektakel, das in den letzten Monaten regelrecht zu einem Internetphänomen geworden ist. Dort läuft ein Lied, das wohl inzwischen jeder in der Türkei kennt. Vor der Eisdiele tanzt eine junge Frau die von dem inzwischen berühmten Eismann entwickelte Choreographie. Unter dem Namen „der verrückte Eismann“ zu türkisch “Çılgın Dondurmacı”, hat sich der mit bürgerlichem Namen Mehmet Dinç heißende Eisverkäufer in der ganzen Türkei einen Namen gemacht. Auf TikTok folgen dem ausgefallenen Eisverkäufer 8,8 Mio. Begeisterte.

Regelmäßig erscheinen in den sozialen Medien Videos, in denen er meistens hinter der Theke seine Choreographie tanzt, während vor der Diele eine junge Frau oder ein junger Mann den Bewegungen mit Blick in Richtung Diele folgt. Der Eismann interagiert mit Augen und Bewegungen mit den dortigen Menschen, nimmt gelegentlich eine junge Frau an der Hand und führt sie hinter die Theke, wo weiter getanzt wird, Die Menge ist begeistert, pfeift und tobt. Es sieht aus wie eine spontane Party zwischen gewöhnlichen Alltag und dem wonach sich vermutlich viele Türken, gerade nach der schwierigen pandemiebedingten Lage, sehnen. Spontanität und Ausgelassenheit könnten kaum besser als in diesen zum Internethype gewordenen Videos zum Ausdruck kommen.

Der Eismann gibt den Menschen was sie brauchen. Zuflucht im Rhythmus zwischen tristem Alltag und politischer Unberechenbarkeit. Und wer will, kann gerne ein Eis haben. Der Eismann hat viele Fragen im Internet ausgelöst. In der Türkei gehören „der verrückte Eismann“ oder „wer ist Mehmet Dinç“ unbestreitbar zu den wichtigsten Google-Suchbegriffen. Wer dieser Mann wirklich ist möchten nun viele wissen. Und viele treibt es dazu, seine Eisdiele aufzusuchen, um dieses Phänomen einmal live zu erleben. In nächster Zeit dürfte sich das Areal um seine Eisdiele herum in eine Art Live-Konzert verwandeln. Um das Eis geht es ja schon lange nicht mehr.

Menschen wie Mehmet Dinç gelingt es scheinbar ein Gegenpol zur kollektiven Stimmung zu schaffen, eine Art Befreiung aus der sehr ermüdenden politischen Paralyse des Landes, in dem man nicht mehr von Morgen oder Eventualitäten sprechen möchte. Es geht um das Hier und jetzt. Um das, was man sofort haben kann. Um das, was einem niemand mehr nehmen kann. Ganz entsprechend dem Zeitgeist. Ein Moment der frei von Zweifeln und Befangenheiten ist. Man antizipiert mit der Lebenslust, das man sich für eine unabsehbare Zeit in der Zukunft wünscht. Es ist sicher mehr als Tanz. Ein Subversion, die sich in Form und Gestalt der politischen Allmacht und Konfrontation entzieht, aber wirksamer ist als jeder offensichtliche Antagonismus.

Die Inflation steht auf Rekordhöhe, die Z-Genaration sorgt für einen ökonomisch-kulturellen Wandel, entwickelt Software und Technologien und öffnet sich der Welt. Gleichzeitig geht es für eine Generation zu Ende, die das Land in ein historischen Zwiespalt getrieben hat. Denn die Wähler der Zukunft sind mit Instagram und Facebook groß geworden, hören Rap und Rock und stehen vor allem für Toleranz und soziale Gerechtigkeit. Der Eismann hat den Nerv der Zeit getroffen. „Ich verkaufe schon lange auf diese Art mein Eis“, offenbarte Mehmet Dinç in einem seiner noch seltenen Interviews. Nur zuvor hätte man ihn nicht gekannt, da er nicht auf die Idee gekommen sei, Videos davon ins Netz zu stellen.

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