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„Aus der tiefsten Quelle der Tugend“

Wieder einmal wurden aus einer aktuellen Studie alarmierende Zahlen zur Konzentrationsschwäche und auffälligen Hyperaktivität unter Kindern und Jugendlichen veröffentlicht. Verursacht durch die pathologische Nutzung von Smartphones. Die Studie wurde in Berlin vorgestellt, zu der mehr als 5500 Eltern und Kinder befragt wurden. Schon der Gebrauch von Smartphones von mehr als einer halben Stunde am Tag, so die Wissenschaftler, steigere die Konzentrationsschwäche der in ihre Geräte vertieften 8-13-jährigen um das 6-fache. Experten sprechen insgesamt von 600.000 Internetabhängigen und 2,5 Millionen „problematischen“ Internetnutzern. Das sind Zahlen, die die romantische Epoche des digitalen Zeitalters aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen. Die Smartphonenutzung unter Kindern und Jugendlichen scheint derzeit eher stillschweigend hingenommen, als ausführlich hinterfragt zu werden.

Denn so sehr das mobile Surfen auch eine Reihe großartiger Vorteile wie diverse Sprach- und Lernapps mit sich bringt, bedeutet sie auch im gleichen, wenn nicht höheren Maße nach wie vor eine nachweislich ernsthafte Veränderung, um nicht zu sagen Bedrohung für die kognitive und soziale Entwicklung, die Entwicklung individueller moralischer Anschauungen und die Entwicklung eines ausgeglichenen Urteilsvermögens heranwachsender Menschen. Denn die vielfältigen Unterhaltungsmöglichkeiten der Smartphones gaukeln dem Nutzer einen vermeintlich sozialen Mehrwert und unverzichtbaren Nutzen vor. In Wirklichkeit ist die Einsamkeit und die soziale Abgeschiedenheit insbesondere unter jungen Menschen noch nie so groß gewesen wie wir es gegenwärtig erleben. Aber warum sprechen wir immer von einer sich heimtückisch heranschleichenden, psychologisch-gesellschaftlichen Gefahr?

Während die befürchteten Veränderungen der für eine bestimmte Generation wichtig erscheinenden gesellschaftlichen Werte, als Prophezeiung einer Kulturevolution durch die Medien geistern, scheint es gleichzeitig auch oft sinnlos, dem Verlauf der technologischen und damit natürlich auch gesellschaftlichen Veränderungen mittels inzwischen überholten Denkmustern Gegengewicht zu bieten. Die öffentlich geführten Debatten zur Nutzung digitaler Endgeräte überschlagen sich mit zahlreich veröffentlichten Büchern von Psychologen und dem Aufschrei öffentlicher Bildungseinrichtungen. Dabei stockt die Diskussion immer in einer Situation sich gegenseitig aushebelnder Faktoren. Sollten wir nun hinnehmen, dass sich ein neues Verständnis des sozialen Zusammenlebens und der psychosozialen Entwicklung junger Menschen etabliert hat, die eine immer wieder aufkommende Hinterfragung und Anfechtung obsolet macht, oder ist es sinnvoll, die gegebenen Umstände weiterhin despotisch mit einem für die digitale Generation unverständlichen Marsch der Tugend zu überspielen?

Während wir glauben, existenziell notwendige Werte im Niedergang zu beobachten, steht eine andere Generation vor unerklärlichen Phänomenen und Begrifflichkeiten. Ihnen wird das einst in Herrschaft gewesene moralische Gebäude des Menschseins vorgehalten, um dann zu folgern, welch schrecklicher Dekadenz man sich durch Technik und Wissenschaft hingegeben hat. Dabei ignorieren wir den Begriff des Zeitalters. Wir können Werte aufrechterhalten, aber nicht die Umgebung in der sie existieren. Und über das Zeitalter hat Egon Friedell in „Kulturgeschichte der Neuzeit“ einen denkwürdigen Vergleich mit dem menschlichen Körper angestellt. „Jede Zeit hat ihre bestimmte Physiologie, ihren charakteristischen Stoffwechsel, ihre besondere Blutzirkulation und Pulsfrequenz, ihr spezifisches Lebenstempo, ihre nur ihr eigentümliche Gesamtvitalität, ja sogar ihre individuellen Sinne: eine Optik, Neurotik, die nur ihm angehört.“ Und er fügte hinzu:“ Die Geschichte der verschiedenen Arten des Sehens ist die Geschichte der Welt“.

Ignorieren wir also womöglich sogar unsere eigene Geschichte sehenden Auges? Und mit dem Marsch der Tugend, welchen wir gerne vorspielen, naja…, sie richtet sich wenn man es streng philosophisch sieht gegen uns selbst. Denn sie entspringt nach dem britischen Denkkünstler John Locke der Willensfreiheit. Noch mehr: Die Willensfreiheit steht mit der „tiefsten Triebfeder“, dem „Glücksdrang“ des Menschen Seite an Seite. Und da wären wir auch schon im nächsten philosophischen Labyrinth. Denn das Urteil über Glück und Unglück lässt sich in vielen Fällen nur schwer gestalten. Glück ist die Zusammenführung der für das Individuum angenehm erscheinenden Dinge mit allen Sinnen die ihm zur Verfügung stehen. Denn wir sollten Wissen, was uns umgibt und womöglich auch gefährdet. Wir sollten wissen, ob wir selbst entschieden haben oder manipuliert wurden. Und wir sollten wissen, warum wir uns in machen Fällen gegen etwas und in machen Fällen für etwas entscheiden. Und dann wären wir auch schon wieder bei der Ausbildung moralischer Ansichten, dem Urteilsvermögen und der psychosozialen Entwicklung junger Menschen. Und diese ist gefährdet…ähh ja, durch die exzessive Nutzung der Smartphones. Zumindest könnte es sein, dass wir in unserem Wissen eingeschränkt werden, wiewohl wir uns in der Willensfreiheit, ja der tiefsten Quelle der Tugend suhlen. In der chinesischen Philosophie wird das Wissen zur Erlangung der Wahrhaftigkeit vorausgesetzt. Und die Wahrhaftigkeit ist für jeden eine andere. Also, lasst uns frei sein bzw. surfen, aber nicht vergessen zu philosophieren.

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