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Alles vergessen, außer die Musik

Musikalische Fähigkeiten bleiben bei einer Demenzerkrankung vollständig erhalten. Viele Erkrankte, wie der ehemalige britische Profitenor und Dirigent Clive Wearing, sind nach einem Gedächtnisverlust in der Lage musikalische Stücke zu spielen und Texte vollständig wiederzugeben.

Schon seit Jahren beobachten Wissenschaftler, dass Menschen insbesondere mit degenerativen Demenzen wie Alzheimer, oder bei entzündungsbedingten Amnesien in der Lage sind musikalische Fähigkeiten unverändert zum Ausdruck zu bringen. Fallstudien wie die der kanadischen Wissenschaftler, die bei einer Alzheimerpatientin mit schweren kognitiven und sprachlichen Defiziten ein intaktes Musikgedächtnis feststellen konnten, bestätigen die Beobachtungen in diese Richtung. „Die Beobachtung, dass sich Menschen, deren Gedächtnis durch Schädigungen des Gehirns stark beeinträchtigt ist, an Musikstücke erinnern und sie spielen oder singen können, ist jedoch nicht selten“, sagt der Neurologe Carsten Finke von der Charité Berlin und der Berlin School of Mind and Brain. Er selbst wurde Zeuge eines derartigen Phänomens. Bei der Durchführung einer Studie zu Herpes-Enzephalitis-bedingter Amnesie begegnete Finke einem Patienten der trotz des vollständigen Verlusts aller Erinnerung an die Vergangenheit unverändert gut Cello spielen konnte.

Interessant ist besonders, dass die Temporallapen und insbesondere der Hippocampus, der für das dauerhafte Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen zuständig ist, lange als Speicherort für musikalische Erinnerungen galt. Demnach hätte Wearing durch den dauerhaften Schaden des Hippocampus seine Fähigkeiten verlieren müssen. Der Neurowissenschaftler Oliver Sacks erklärt diese Auffälligkeit mit dem prozeduralen Gedächtnis. Als Gedächtnis der Bewegung und Handlung nutze es die primitiven und tiefer gelegenen Areale des Gehirns. Zugleich sei es als Teil des unbewussten Gedächtnisses nicht direkt abrufbar. Eine Bestätigung in seiner Theorie sieht Sacks in der Tatsache, dass Wearing sich nur anhand der Noten oder Aufnahmen an Musikstücke erinnerte, jedoch diese keinen bestimmten Namen zuordnen konnte. Finke sieht in den neuen wissenschaftlichen Ansätzen die Möglichkeit, das musikalische Gedächtnis zum Aufrufen verlorener Informationen aus anderen Gedächtnisdomänen zu nutzen.

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