Allgemein

Die kranken Kinder des Krieges

Psychotraumatologe Günter H. Seidler bezweifelt die zivilisatorische und gesellschaftliche Rehabilitation in den Konfliktgebieten des Nahen Ostens in der die Gewalt sich seit Jahren zum Teil über mehrere Generationen erstreckt. Er sieht in der durch massive Gewalt ausgelösten posttraumatischen Belastung (PTBS) der Kriegsopfer ein ernstzunehmendes Problem, das nicht zuletzt durch die schwerwiegenden Folgen der unter Wahrnehmungsstörung leidenden Opfer ein über Jahre hinweg andauerndes Entwicklungshemmnis der Zivilisation auslösen könnte.

Hierfür beschreibt er detaillierte psychologische Mechanismen, die infolge von Kriegseinwirkungen Verhaltens- und Wahrnehmungsstörungen auslösen; und wie sie durch interaktionelle oder sogar erblich bedingte Umstände weitergegeben werden können. Die traumatischen Einwirkungen des Kriegs und der Vernichtung werden sich nach Einschätzungen des Psychotraumatologen in Form von Depression und Angststörungen in die Fähigkeit der Stressverarbeitung kommender Generationen einnisten und dadurch eine im Unterbewusstsein deregulierte Reaktion auf Stress hervorrufen. Hier werde das posttraumatische Verhalten durch den engen sozialen Umgang innerhalb der Familien unweigerlich an die jüngeren in Form von Traumafolgestörungen weitergegeben. Denn traumatisch vorbelastete Menschen können die Folgen ihrer Erlebnisse nicht abschalten.

Traumatisierungen seien psychische Verletzungen in der die Verarbeitungsmöglichkeiten des Organismus, ausgelöst durch Todesangst, überfordert sind. Die Folgen zeigen sich in der gestörten zeitlichen Einordnung der Erlebnisse der Betroffenen. Diese nehmen Stresssituationen als erneute Bedrohung war, ohne diese als vergangen einstufen zu können. Die zuvor erlebten Ängste sind präsent als würde Betroffene das gleiche Schicksal erneut ereilen. Die situativ entstehenden sogenannten Flashbacks und Schlüsselreize lösen eine wiederholte real anmutende Präsenz der im Krieg erlebten Gefühle aus. Die Betroffenen sind ständig Übererregt und in Alarmbereitschaft. Emotionale Ausfälle und unkontrollierte Wut sind sehr häufig. Hintergrund dieses bleibenden Traumas sind Stresshormone die in lebensbedrohlichen Situationen ausgeschüttet werden. Diese halten den Körper unter ständiger Fluchtbereitschaft. Zentralnervöse Strukturen ordnen im Normalfall Ort und Ereignis so, dass in einer anderen Umgebung Stressreaktionen nachlassen.

Dieser Mechanismus jedoch wird durch Cortisol, welche unter starkem Stress ausgeschüttet wird, gestört. Ähnliches vermutet Seidler auch bei den damaligen Kindern die infolge des 2.Weltkrieges einer ähnlichen Atmosphäre ausgesetzt waren. Von weitverbreiteten Annahmen, dass Kriegsopfer der Nazizeit angeblich 40 bis 50 Jahre symptomfrei gewesen sein sollen hält Seidler nicht viel. Er bezweifelt dass diese Menschen je gesund gewesen sind. Aber zu Palästina, Irak oder auch Afghanistan hat er eine eindeutige Haltung: „Ich bezweifle, dass es im Irak, Syrien oder Palästina jemals wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft geben kann. Selbst therapeutische Methoden müssten spezifisch angewendet werden, da westliche Therapiemethoden nicht greifen würden. Hier schlägt Seidler speziell entwickelte Gruppentherapien vor. Doch unter den gegebenen Umständen die einer individuellen Therapie die Grundlage entziehen, sieht Seidler von einer Therapie ohnehin ab.

Spektrum der Wissenschaft

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert