Feuilleton

Aufstieg und Untergang – Warum jede Kultur betroffen ist

Die deutsche Bevölkerung ist in vielerlei Hinsicht sehr eigenartig. „Am liebsten haben es die Deutschen, wenn alle Welt sie als das Volk der Dichter und Denker preist“, beginnt Paul-Heinz Koesters sein heute historisches Werk Deutschland, deine Denker und fährt fort: „Das ist erstaunlich. Denn zumindest die Bundesbürger haben wenig Beziehung zu ihren Dichtern, und ihren Denkern stehen sie erst recht fern“. Man darf annehmen, dass sich an diesem Umstand wenig geändert hat, wenn es nicht sogar schlimmer geworden ist. Das äußerst geschichtswissenschaftliche Wort Abendland ist in aller Munde und wird nach Genehmen der politisch derzeit schnell schwankenden Stimmung gedeutet und gebraucht. Der demografische Wandel, welcher als der stärkste in der Geschichte der Bundesrepublik gilt, zwingt Menschen aus allen sozialen Schichten sich mit diesem aufheizenden und identitätsstiftenden Begriff anzufreunden. Lange war es jedem Bundesbürger egal, welche kulturhistorische Schlagkraft dieser Begriff in sich birgt und inwiefern sie mit den dazugehörigen, vermeintlich kennzeichnenden Wertevorstellungen in Verbindung steht.

Kaum einer weiß,
inwiefern eine medial motorisierte Angst über einen starrsinnig
prophezeiten Untergang der sogenannten abendländischen Kultur
berechtigt ist. Denn was bedeutet es, wenn eine Kultur verloren geht
oder verdrängt wird? Was genau macht uns dabei Angst? Sind es
Verluste die unser alltägliches Leben und damit unmittelbar unsere
Existenz betreffen? Was genau ist die abendländische Kultur? Ein
unter Geschichtswissenschaftlern wenig beachteter Kulturhistoriker
hatte von 1918 an in der mehrbändigen Ausgabe seines Lebenswerks Der
Untergang des Abendlandes, eine polemisch formulierte Schrift über
den eigenständigen Verlauf einer jeden Kultur darlegt. Es war kein
geringerer als Oswald Spengler, der im Untergang des Abendlandes die
zum Teil unberechtigte Aneignung der Antiken Kultur durch politische
und wissenschaftliche Größen seit dem 18. Jahrhunderts darlegt und
anprangert. Insgesamt sieht er das romantisierende Bekenntnis zur
abendländischen Kultur als einen künstlich herbeigeführten
Geltungsanspruch im Rahmen der linear betrachteten
Geschichtsschreibung, um eine kulturelle Überlegenheit im normativ
niedergeschriebenen Verständnis über den Zivilisationsprozess zu
sichern. Die Betrachtung der europäischen Geschichte drehe sich
hauptsächlich um treuherzig ausgedrückte politische Ideale, mit
einer überhobenen Schwärmerei vom Altertum.

Geschichtswissenschaftlich
anerkannt oder nicht, gewinnt die Darstellung Spenglers gerade heute
mehr Bedeutung denn je. Dabei geht es nicht um die
kulturmorphologische Einteilung eines Zivilisationsprozesses, in dem
die phasenweise Entwicklung einer Kultur mit dem des Menschen
verglichen und mit Jugend, Blütezeit, Alter und Tod gleichgesetzt
wird. Vielmehr steht das dogmatische Verständnis einer unzureichend
definierten abendländischen Kultur im Raum. Sie lebt und erweitert
sich durch ideele Verknüpfungen zu historisch gigantischen
Persönlichkeiten wie Cicero, Cato und Augustus. Die abendländische
Identität äußert sich parabolisch, mystisch, stoisch und
enthusiastisch. Ihre Erscheinung ist abstraktiv, gewaltig und
dogmatisch. Spengler führt Beispiele leidenschaftlicher Aneignungen
aus einigen wissenschaftlichen, politischen und philosophischen
Riegen an. Bei Nietzsche sei es das vorsokratische Athen, bei den
Nationalökonomen die hellenistische Periode, bei den Politikern das
republikanische Rom und den Dichtern die Kaiserzeit gewesen. Ursache
und Wirkung seien in der Einordnung kulturhistorischer Tatsachen in
den Hintergrund gerückt. Vielmehr gelten Reinheit, Kraft und die
Stärke der Symbolik.

Das ist auch heute
wieder zu beobachten. In einer Zeit der gesteigerten Angst vor
Überfremdung und Verdrängung gelten Symbole mehr als nur
Erkennungsmerkmale. Sie werden, auch ohne historisches Verständnis
gerne hochgehalten, um einen Unterschied zu setzen und sich der so
wahrgenommenen Drohung zu stellen. Dabei ignoriert die situative und
emotional geladene Empfindsamkeit und der daraus resultierende Zweck
der klaren Stellung die nötige Überprüfung auf
geschichtswissenschaftlichen Gehalt. Spengler hat bereits einige
Entwicklungen seiner Zeit vorausgesagt und könnte auch in der
aktuellen Angelegenheit zur Lage der Entwicklung in Europa Recht
behalten. Das Empfinden und Bangen um die abendländische Kultur ist
somit ein kultureller Phantomschmerz. Der Untergang des Abendlandes,
so Spengler, sei als ein Problem der Zivilisation aufzufassen. Hier
läge einer der Grundfragen aller höheren Geschichte vor. Nach
Spengler ist Zivilisation als organisch-logische Folge in einem
periodischen System zu betrachten. Die Zivilisation mit seiner
Vollendung und seinem Ausgang ist das unausweichliche Schicksal einer
jeden Kultur. Spengler beschreibt die Zivilisation als äußersten
künstlichen Zustand, dessen die höhere Art von Mensch fähig sei.

Dass eine
Zivilisation auch irgendwann dem Ende zusteuert und abklingt, zeigt
uns insbesondere die Geschichte des Islams in Europa. Und gerade das
Schicksal der islamischen Geschichte in Europa sollte hervorgehoben
werden. Denn die zwanghafte Vorstellung über ein gefährliches
Vordringen der islamischen Kultur und der damit verbundenen
apokalyptisch anmutenden Prophezeiungen verwischen die historisch
vielfältigen Entwicklungsphasen, die Europa zu dem geformt haben,
welches heute als abendländische Kultur verstanden und hochgehalten
wird. Es war die Ausbreitung des Islams seit dem 7. Jahrhundert und
die darauf folgenden im 9. Jahrhundert sich weltweit verbreitenden
Handelsstützpunkte in Vietnam und in südchinesischen Hafenstädten,
die das Europa im Geflecht der weltweiten Beziehungen direkt und
indirekt beeinflusst und vorangebracht haben. Im 15 Jahrhundert lag
die Kontrolle des Seehandels im indischen Ozean zum größten Teil in
der Hand der Muslime. Bis zum 15. Jahrhundert wirkte die islamische
Kultur im technischen und maritimem Bereich befruchtend auf die
abendländische Kultur. Nicht nur das. Der durch die Renaissance
begünstigte Höhepunkt der europäischen Philosophie in der
Hochscholastik kam erst durch die Berührung mit den griechischen
Schriften zustande. Diese aber wurden erst durch die Übersetzung
arabischer Gelehrte zugänglich.

Die islamische
Hochblüte in Cordoba von 756 bis Anfang des 11. Jahrhunderts
repräsentierte unter der Führung der Omajjaden den
fortschrittlichen Lebensstil einer aufgeschlossenen und
wissenschaftlich orientierten Kultur und folgte somit dem Erbe der
antiken Kultur. Astronomie, Technik und Medizin prägten die
Leistungen europäischer Gelehrte. Gefolgt von den Nasriden (1232-
1492), die selbst nach der Rückeroberung großer Teile Spaniens
durch christliche Königreiche bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
wirkten. Hier kam insbesondere die islamische Baukunst zur Geltung.
Nur ein paar Jahrhunderte vorher wirkte im Kalifat von Bagdad ein
großer Universalgelehrter, der als Fürst der Medizin in die
Geschichte eingehen sollte. Es war der arabische Philosoph und Arzt
Ibn Sina, den man in Europa eher unter dem Namen Avicenna (975-1037)
kennt. Avicenna bringt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse
Aristoteles in seine wissenschaftlichen Untersuchungen ein und
verfeinert diese richtungsweisend. Aber auch die islamische Kultur
und dessen Wirkungsbereiche waren nicht vor einer Verdrängung durch
andere Kulturen gefeit. So erfährt der islamische Machtbereich in
Mittelasien einen schweren Schlag, als die mongolische
Eroberungswelle während des 13. Jahrhunderts die hochentwickelte
mittelasiatische Kultur zerstört und die kulturelle Führungsrolle
der islamischen Welt im Osten beendet.

Während die
heutigen Befürchtungen über den Zerfall der abendländischen Kultur
nur ein trügerischer Blick auf einen kurzen Abschnitt auf die
Geschichte Europas ist, bezeichnet der Zerfall der abendländischen
Einheit ein wesentlich bedeutenderes Ereignis in der Vergangenheit.
Die Wende in der Entwicklung der europäischen Geschichte wird auf
das Jahr 1198 datiert. Dem Tod Heinrich VI im Jahr 1197 folgt eine
Wende bringende Doppelkönigswahl im Jahr 1198. Die
Thronstreitigkeiten schwächen das deutsche Königtum. Dem folgt
später die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geführte
Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Kaisertum, welche zum
Niedergang des Reiches führt. Beide Machtmonopole gestalteten in
ihrer geistigen Fusion die maßgebende mittelalterliche Entwicklung
des Abendlandes und waren die Verkörperung der „universitas
christiana“. Der Zusammenbruch des „renovatio impeeri Romani“
und der Machtschwund des mittelalterlichen Papsttums folgen einer
kurz auflebenden Blütezeit unter Staufers Friedrich II . und des
Papstes Inozenz III . Ersterer hatte die Vereinigung Siziliens mit
dem Deutschen Reich ermöglicht und die gemeinsame Vertretung des
Gedankens der „renovatio imperii Romani“ repräsentiert. Die
politische Entmachtung des Papsttums und das Ende des staufischen
Imperiums folgten der Auflösung des kirchlich-weltlichen
Einheitsordos die durch den Hierokratismus Gregor VII. eingeführte
Diastase der Gewalten Imperium und Sacerdotium herbeigeführt wurde.
Die Auflösung der abendländischen Einheit ist somit vollzogen und
markiert den Übergang der Hauptakteure Italien und Deutschland in
eine Staatenwelt. Die hochmittelalterliche Phase mündet in den
Ausbau des Staatenpluralismus in dem die Gleichberechtigung der
Völker gilt und die Geschicke Europas immer mehr von Frankreich und
England gestaltet werden.

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