Feuilleton

Eine Pandemie als globale Kulturevolution

BILD: TRIUMPH DES TODES VON JAN BRUEGHEL  (1597) – MUSEUM JOANNEUM, GRAZ

Wie die Welt nach der Pandemie aussieht, bleibt zunächst Spekulation. Klar ist dagegen, dass sich über Jahrhunderte herausgebildete Auffassungen und allgemeingültige Theorien zu Politik, Moral und Ethik an der Gegenwart messen und unter neuen Voraussetzungen und dem Eindruck eines ebenso neuen weltgeschichtlichen Kapitels einer Art historischer Revision ausgesetzt sind. Unser heutiges Leben und mit ihr alle naturrechtlichen Selbstverständlichkeiten, sind ein Zustandekommen aus der Chronologie der Weltgeschichte, mit Fährten über Umwälzungen, Kriege und besiegte Krankheiten bis zur Gegenwart der demokratischen Stabilität, Gleichheit und aufgeklärten Gesellschaft. Viel bleibt von der Linearität des Fortschrittglaubens nicht mehr. Eine Zusammenfassung über das was dazu führte.

Vor der Pandemie herrschte der Wunsch nach einer globalen Wende.

Seit dem die Weltgesundheitsorganisation im März 2020 die Ausbreitung von Covid-19 zur Pandemie erklärt hat, ist viel passiert. Was zu Anfang der aller darauf folgenden Geschehnisse einsetzte, war ein geistig-kollektiver Reset. Hier wandelten sich Hoffnung und Angst in ein amorphes und chaotisches Lebensgefühl. Ungläubig über die plötzlichen Entwicklungen, setzte eine neue Anordnung von Prioritäten ein. Etwas das dazu führte, einen neuen Ausgangspunkt für das obsolete Lebensgefühl schaffen zu wollen, sich mehr für die Gemeinschaft und den Nächsten zu interessieren. Ganz im Sinne der damaligen globalen Situation, die sich nur kurz vor dem gesundheitlichen Supergau ereignete. Zeitgleich kam die in allen Teilen der Gesellschaft übereinstimmende Einsicht, dass es auf diese Weise ohnehin nicht weitergehen kann.

Bewaffnete Konflikte und politische Debatten beherrschten die Tagespolitik in der kurzen und intensiven Zeit vor dem globalen Erdbeben. Trumps außenpolitische Fehlschläge und schrittweise Abwendung von internationalen Abkommen, hatten die internationale Gemeinschaft verunsichert. An der Ermordung von George Floyd durch zwei Polizisten im Bundestaat Michigan entbrannte ein landesweiter Protest gegen die Justiz. Noch im Sommer vor dem Infektionsausbruch in Deutschland, zeigte sich eine angespannte Stimmungslage über die aufgeflammten bewaffneten Konflikte zwischen Israel und Palästina. Die Demonstration mehrerer Tausend Palästinenser gegen die Blockade des Küstenstreifens an der Grenze zu Israel eskalierte und brachte in Folge mehrere hundert Tote.

In deutschen Großstädten führten die Entwicklungen zu heftigen Demonstrationen und scharfen Debatten. Islamophobie und Antisemitismus prägten die öffentliche Stimmung der darauf folgenden Monate. Die Zeit schien reif für ein Wandel, der unsere Welt zu einem besseren Ort machen musste, als sie war. Der Wunsch in der Allgemeinheit nach einem nicht klar definierten, kulturevolutionären Prozess war groß. Noch konnte keiner ahnen, dass sich die ganze Weltordnung wie wir sie kennen verschieben und Frieden und Demokratie unter dem Zeichen eines weltumspannenden Ereignisses neue zeitgeschichtliche Aufmerksamkeit genießen würde.

Die meisten Menschen glaubten an eine übernatürliche Vergeltung für das verwerfliche Dasein.

Und dann geschah es. Die ersten Informationen über ein besorgniserregendes Virus in China sickerten durch. Von anfänglicher Ahnungslosigkeit zu bevorstehenden dramatischen Entwicklungen bis zur globalen Katastrophe ging es sehr schnell. Vergessen waren Gazastreifen, Rassismusdebatten, politische Schlammschlachten und nationale Klimadebatten. Wie in logischer Schlussfolgerung entstand eine eigenartige Assoziation der angsteinflößenden Pandemie mit einem übernatürlichen Gesetz von Ursache und Wirkung. Viele glaubten an eine Art Karma als Antwort auf das verantwortungslose Dasein des Menschen. Krieg, Hungersnot und soziale Ungerechtigkeit waren Begrifflichkeiten der beginnenden ideologisch-spekulativen Corona-Debatte. Unzählige Theorien und Verschwörungen überfluteten die sozialen Medien. Paralysiert durch Ungewissheit und Angst über das was Morgen kommen könnte, fing jeder an, das Weltgeschehen in eine für ihn plausible Ordnung, gemäß seiner Überzeugung einzuordnen. Hauptsächlich drang die Anschauung der Pandemie als Wende für ein neues globales Bewusstsein in Politik und individueller Verantwortung durch. Was jedoch mit einem bislang ungekannten Gefühl des gesellschaftlichen Zusammenhalts und ausführlichen Solidaritätsbekundungen durch Politiker und Bewegungsakteure begann, führte immer mehr zur politischen Zersplitterung weiter gesellschaftlicher Teile.

Die Pandemie schuf neue soziale Schlüsselfaktoren und Normen.

Heute sehen viele Menschen den freiheitlich begründeten Pragmatismus und das persönliche und ungehinderte Streben nach Glück am Ende seiner Bedeutung. Der Liberalismus hängt jetzt mehr am konzentrierten Interesse der Gemeinschaft und rückt fast gänzlich von Autonomie und Entfaltung ab. Die persönliche Haltung zur Corona-Pandemie ist mehr als bloße Bekundung subjektiver Eindrücke. Ob das gut oder schlecht ist soll hier nicht bewertet werden. Jedenfalls ist sie längst zum Persönlichkeitsprofil eines Individuums geworden und imstande, Sprache und Wahrnehmung auf verhängnisvolle Weise zu karikieren. Politische Gespräche sind unter dem Eindruck der Pandemie zum sozial relevanten Schlüsselfaktor und gesellschaftlichen Normativ geworden, die als erkennbarer Kontrast Einblicke über Form und Qualität eines verantwortungsbewussten Lebens gewährt und jeden gegen seinen Willen ausweist.

Der soziale Umgang ist seit der Pandemie politisierter und komplizierter.

Verfassung und Grundgesetz stehen unter den ungewohnt wachsamen Augen einer Öffentlichkeit, die ihre Emotionen in den vielfältigsten Formen akzentuiert. Begriffe katapultieren sich wie von alleine in die Öffentlichkeit und führen zu politisch relevanten Sozialisationstendenzen unterschiedlichster Art. Gleichzeitig hat die Pandemie unser Leben an die Tagespolitik herangerückt und die Partizipation mit ihr spürbar verstärkt. Das neue Leben unter dem Eindruck tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen wird sich nachhaltig auf die Art der Herangehensweise bei Krisen und unberechenbaren Entwicklungen in Zukunft prägen. Und keine soziale Bindung oder vorausblickende Entscheidung für das Leben entkommt dem Einfluss der Nachwirkung dieser Pandemie. Die Haltung zur Pandemie und ihre ethische und moralische Einordnung entscheidet über Freundschaft, Erfolg und soziale Ausgrenzung, zieht neue Grenzen zwischen freier kultureller Betrachtung und zeitgemäßer Handlungsfähigkeit. Im Affekt der Pandemie haben sich neue Normen etabliert, die sämtliche Blickwinkel auf ethische Grundlagen des Zusammenlebens neu geordnet haben. Eine entscheidende Verschiebung im Gleichgewicht zwischen Prioritäten des sozialen Lebens und individueller Entscheidungsfreiheit hat sich aufgetan, die durch Fragen zur eigenen Existenz und Bewusstseinsschaffung, die Epoche einer postaufklärerischen Philosophie im Quartiär geschaffen hat. Quartiär, das ist unser Zeitalter in dem wir Leben. Sie bedeutet vor allem Vernetzung und Kommunikation. Und im Komplex einer dicht vernetzten Welt wandelt sich der Begriff der Verantwortung und Solidarität immer weiter.

Recht und Freiheit sind multikulurelle Begriffe mit starken globalen Bezügen geworden.

Verantwortung hat die begrenzte Reichweite des unmittelbaren Umfelds verlassen und weist in ihrer Wandlung facettenreiche Zusammenhänge auf. Nicht nur das. Geprägt durch die Pandemie impliziert verantwortungsbewusstes Handeln die unbedingte Korrelation mit dem Leben des Nächsten, macht darauf auswirkende Faktoren spürbar, ist unvermittelt und kohärent mit Entwicklungen auf der anderen Seite der Welt. Das demokratisch-freiheitliche Verständnis des Zusammenlebens ist plötzlich nicht mehr so konsistent wie wir es bislang aus allgemeingültigen Auslegungen kannten. So hat sich die körperliche Unversehrtheit als einer der wichtigen Grundpfeiler unserer Verfassung, an den Folgen einer sich unerbittlich ausweitenden Pandemie messen müssen. Auslegungen zu Recht und Unrecht bauen auf eine neue Grundlage globaler Umwälzungen, die weit über die Provinzialität und Einfachheit traditioneller Betrachtungen hinauslaufen. In einer Zeit in der ökologische und soziale Verantwortung bis tief in das Privatleben hineinreichen und in der persönliche Entscheidungen großen Anteil an der Gestaltung einer besseren Welt haben, erweitert eine Pandemie wie wir sie erleben, dieses ohnehin komplexe Geflecht der kollektiv-relevanten Handlungen ins Unermessliche. Was du tust, tust du zum Großteil für die Welt deiner Zeit und für eine nicht klar einzuschätzende Welt danach. Aber vergessen dürfen wir in keinem Fall die Presse- und Meinungsfreiheit, die Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf ein freies Leben.

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