Feuilleton

Warum Menschen im Mittelalter freier denken konnten

Wie schön, dass wir alle in der irrsinnigen Freiheit leben.

Wir sind frei, wir sind individuell, wir sind emanzipiert von der Gefangenschaft dogmatischer und normativer Wertekonstrukte aus Zeiten der großen Unwissenheit. Wir haben das Denken und Handeln und die Bedürfnisse des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt gestellt, haben daran eine Reihe von Konstrukten des Rechts und der ethischen Werte geknüpft. Wir sind erhellt, sehen Vergangenheit und Gegenwart in der klaren Linearität eines fortschreitenden Prozesses von Staat und Gesellschaft. In der Antike und dem Mittelalter war politische Zurückhaltung keine Frage des Wollens. Das wissen wir. Schließlich gehen uns die Bilder der blutigen und gewaltigen Momente historischer Umwälzungen eines allzu bewegten Europa von einst nicht aus dem Kopf. Was hat Europa schon nicht alles über sich ergehen lassen? Die Pest, der Dreißigjährige Krieg, die Französische Revolution. Alte Kirchenbauten, vergilbte Schriftensammlungen, Briefwechsel großer Denker und die mit großer Strahlkraft hinterlassenen Kunstwerke sind Zeugen vieler aus heutiger Sicht sehr dunkel daherkommender Kapitel, die aber dennoch in jedem Bruchteil ihrer Momente ein Mosaikstück für das heutige demokratisch-freiheitliche Europa lieferten. Heute sind es gewaltige Ölgemälde, so groß wie Hauswände, die als eindrucksvolle Szenen weiter leben. Selbst die ferne Antike hat an Glanz nichts verloren. Mächtige muskulöse Figuren griechischer Götter und Denker in anmutiger, nahezu perfekter Pose sagen uns, dass die Geschichte Europas das Weltgeschehen und mit ihr die Europäisierung der Welt vorangebracht haben muss.

Mit jedem weiteren Begriff aus der Philosophie erschien das Mittelalter dunkler.

Es waren Former der abendländischen Kultur, die nicht nur den geistigen Beginn der jüngeren Neuzeit markierten und den Begriff Abendland verständlich prägten, sondern endgültig auch den markanten und greifbaren Kontrast zum Mittelalter schufen. In der Renaissance sah man große Kulturgüter zwischen seiner Zeit und der Antike verloren gegangen. Diese Einschätzung sollte sich bis in das 19. Jahrhundert ziehen. Schopenhauer sah die Fäuste des Mittelalters geübter als die Köpfe. Kant, Locke, Hobbes, Rousseau und Nietzsche. Aus den tausend geistigen Zentren philosophischer Meilensteine entstehen die wichtigsten Denkansätze für ein freies und unbefangenes Nachsinnen, Reflektieren und Analysieren. Grundfeiler der neuen Wahrnehmung zum Begreifen der Natur und des eigenen Existenzbewusstseins. Vor allem drang sich ein immer wichtiger werdender neuer Ansatz des politischen Handelns in den Vordergrund des Philosophierens: Der Mensch als denkendes und handelndes Individuum im Komplex staatlicher, ökonomischer und politischer Verflechtungen. Mit jedem neuen Begriff aus der unübersichtlichen Verwachsung philosophischer Denkkunst zur Staatstheorie und vieler neuer Strömungen, verfällt die Spanne jenseits der Neuzeit trotz ihres unschätzbaren Kulturreichtums immer mehr in eine Einordnung menschlicher Blindheit, religiöser Dogmatik und Leichtgläubigkeit. Der Eindruck wirrer und unsteter Zeitalter bleibt als primitive Kontur zurück und ganz unabhängig der zeitgeschichtlichen Genauigkeit und Abgrenzung, setzt sich das Mittelalter als symbolträchtigste Form der Rückständigkeit durch.

Wir spotten gerne über das Mittelalter. Dabei sind wir gefangener als wir glauben möchten.

Zweifellos prägten Zauber und Kult die Sehnsucht der Menschen, die angesichts des unberechenbaren Daseins im Mittelalter eine Zuflucht in allem Vorstellbarem und Unvorstellbarem suchten. So sehr wir den Menschen der Gegenwart ungern mit jenen aus vorangegangenen Zeitaltern, vorwiegend aus dem Mittelalter vergleichen, weil diese oft, paradoxerweise gewaltig und groß erscheinen, so sehr sehen wir uns auch in einer besseren und helleren Zeit. Wie oft kommt einem das Wort Mittelalter, als abwertende Feststellung oder vernichtendes Urteil bestimmter gesellschaftlicher Zustände oder politischer Irrwege, über die Lippen? Fast instinktiv löst sie Beklemmung in Form von Kriegszenen und Verbrennungen vor dem geistigen Auge aus. Wir verbinden mit diesem Zeitalter ein dummes und barbarisches Kapitel der Menschheitsgeschichte, mit dessen Hilfe wir den klaren Kontrast zur Gegenwart zumindest in Farbtönen schaffen. Es tut gut zu wissen, dass sich die Lehren dunkler Zeiten in unser Unterbewusstsein gegraben haben. Und jetzt, wo wir rückblickend über Ursachen und Folgen falschen oder richtigen Handelns wortreich und theorienüberlastet urteilen können, geben wir uns überheblich die Würde, über die Vergangenheit gewissermaßen zu spotten. Was wir jedoch gerne ignorieren ist, dass wir unserem gesellschaftlichen Fortschritten und der nahezu uneingeschränkten Freiheit womöglich gefangener sind, als wir es akzeptieren würden. Im Wahnsinn der Grenzenlosigkeit und des exzessiven Auslebens individuellen Daseins liegt weniger Mut, Kraft und Wandlungs- und Schöpfungsfähigkeit als wir vorgeben. Die Erkennung von Farbstufen und Konturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Nuancen, die Diversitäten in Meinung und Haltung werden immer unkenntlicher. Im Fortschritt verblassen Fähigkeiten, die Menschen lang vor unserer Zeit zum Überleben geholfen haben. Selbst die Corona-Pandemie, die im Vergleich zu den Pandemien und tödlichen Krankheiten des Mittelalters mit ihrer medizinischen und technischen Begrenztheit wie ein Witz erscheint, überschreitet beinahe das medizinische Wissen, die technologischen Möglichkeiten und die zwischenmenschlichen Kompetenzen der Gegenwart.

Wo die Freiheit wächst, wächst auch das Normativ der Dinge für politische Korrektheit und freiheitlichen Unfug.

Als Individuum gefangen, zwischen medialem Einfluss und politischer Vorgabe, haben wir vergessen Risikokompetenz und politische Eigeninitiative für das Allgemeinwohl zu verbinden, fürchten Urteil und Einordnung, Denunziation und Ausgrenzung, suchen rastlos nach politischer Zugehörigkeit und vermeintlich korrekter Haltung zu jeder noch so kleinen aufkommenden Strömung. Wo die Freiheit wächst, wächst auch das Normativ der Dinge für politische Korrektheit und freiheitlichen Unfug. Wir wollen Glauben einschränken, wie es nur möglich ist. Wir wollen wissen, wie es nur möglich ist. Das wollten Menschen im Mittelalter auch. Aber daneben gab es die Einsicht, dass es etwas gibt, das den Menschen nur im Raum des metaphysischen vervollständigen kann. Eine Freiheit für seelischen Ausflüge, denen man gerne ein Platz in der ausdrucksvollen Kunst und Lyrik gab. Menschen waren leichtgläubig, fantasiereich und hatten genug Vernunft, um an Dinge zu glauben die nicht wahr sind. So sieht es zumindest Egon Friedell in seinem epochalem Werk Kulturgeschichte der Neuzeit: Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ersten Weltkrieg .

Man war leichtgläubig und glaubte an Alles. Aber man glaubte vor allem an sich selbst.

Die Kraft für das Gegenwärtige hatte seine Energie in etwas Unsichtbarem, etwas vollkommen Freiem.

Die deutliche Strahl- und Wirkungskraft benennt Friedell dann auch in einfallsreichen Worten. Das Mittelalter habe seine postum wirkende deutlich scharfe, charakteristische und unverkennbare Eigenart, einer in der Weltgeschichte beispiellosen Internationalen Kultur zu verdanken. Man sei leichtgläubig gewesen und glaubte an alles, ja, aber man glaubte vor allem an sich selbst. Heute glauben wir dagegen internationaler als eh und je zu sein. Dabei sind es Bilder, die Orte verlassen und in leichtgläubigen Köpfen mit neuen Bilder verschmelzen, Unwirklichkeiten in Kunst und Ausdruck jeglicher Art einfließen lassen. Eine Internationalität wandelnder Ideen und unausgesprochener Geheimnisse. Genau das haben wir verloren. Den Dingen Seele und Persönlichkeit einzuhauchen. Die Rationalität hat jede noch so kleine Ecke unseres Lebens eingenommen und lässt sich ohne Voreindruck und Befangenheit kaum noch deuten. Wir können uns kaum noch in Schönheit und unkonventionellen Gestalten und Formen verlieren. Der Glaube an Übersinnliche Kräfte, Ursprünge und unsichtbare Realitäten, so Friedell, stellte die Quelle von Rausch und Ästhetik dar und der prachtvolle Optimismus jener Zeiten sei trotz Dürftigkeit und Enge übermächtig gewesen. Die Kraft für das Gegenwärtige hatte seine Energie also in etwas Unsichtbarem, etwas vollkommen Freiem. Das Leben habe damals viel mehr als heute den Charakter eines Gemäldes, eines Figurentheaters, eines Märchenspiels, eines Bühnenmysteriums gehabt, so wie noch jetzt unser Leben in der Kindheit. Aber selbst im letzteren müsste man Friedell heute widersprechen.

Heute sind wir gefangen im neurotischen Zwang der Empirie und geißeln uns mit penetrantem Erkennungs- und Wissensdrang.

Wie lieben Gegensätze und damit verbundene Konflikte. Wir lieben es, Schuldige und Verantwortliche auszumachen.

Das Mittelalter sei daher sinnfälliger und einprägsamer, aufregender und interessanter, und in gewissem Sinne realer gewesen. Jede technische Entwicklung sei ein Stück rationalisiertes Leben. Und jede Erfindung habe ein Stück unpersönliches Element der Ordnung und Uniformität gebracht. Die Natur sei herrlich und schrecklich und dem Menschen nicht unterworfen gewesen. Heute möchten wir die Natur auf Biegen und Brechen in unseren Dienst stellen, poltern, schreien und wissen immer alles besser. Heute sind wir gefangen im neurotischen Zwang der Empirie und geißeln uns mit penetrantem Erkennungs- und Wissensdrang. Das hat uns den peinlichen und rückschrittlichen Umgang mit Corona gebracht. Es gab ja nur noch Querdenker oder eben Götter in Weiß. Meinungen dazwischen wurden gejagt, gelyncht und bloß gestellt. Die Politik heute ist wie nie zuvor in der Lage, eine unendliche Palette an Vielfalt mit einem einzigen Virus in zwei Gegenpole zu verwandeln. Entweder- Oder / Schwarz-Weiss/ Querdenker-Impfbefürworte/ Islamist-Humanist. Wie lieben Gegensätze und damit verbundene Konflikte. Wir lieben es, Schuldige und Verantwortliche auszumachen. Unsere Aufrichtigkeit, der wir der Gesellschaft gerne in den schillerndsten Reden und Rhetoriken kundtun, ist angepasste Wortwahl, immer mit implizierter Vorsicht, keine Kollision mit noch so kleinen aufflammenden Strömungen zu riskieren. Wir wollen Vielfalt, aber wir wollen auch das Frau uns Mann beinahe gleich sind. Egal wo und an welchem Ort. Wir wollen Vielfalt, aber wir wollen, dass Sprache der Vielfalt willen immer gleich ist, gebeugt und gedehnt wird, damit sich auch niemand vergessen fühlt. Vielmehr als Heute, ertrug man im Mittelalter Unterschiede. Was man nicht verstand, symbolisierte man. Das Mittelalter, so Friedell, war die Pubertätszeit der mitteleuropäischen Menschheit. Und die Kraft der symbolischen Deutung war jene, um die wir die damalige Menschheit beneiden.Der Mensch hauchte in jede Errungenschaft, von der Baukunst über die Dichtung bis zur konkreten Handlung die tiefe Bedeutung der Symbolik ein. Dies ermöglichte, dass trotz eines streng religiös bestimmten und damit Weltbildes war es möglich, dass extremste Unterschiede in Form und farblichem Kontrast nebeneinander existieren konnten, ohne den Glanz oder den Eindruck der Grausamkeit zu verlieren oder sich gegenseitig zu beeinflussen. Der seelische Zustand des Mittelalters war durchdrungen von unvermittelt auftretenden Wendungen, Leidenschaften und kollektivem Wandel.

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