Feuilleton

Die Metamorphose

Vertrauen Sie der Wissenschaft noch? Oder hat die ehrbarste Errungenschaft der Menschheitsgeschichte ihre Rolle als Schutzpatron gegen die schier unbesiegbare und immer wieder aufflammende Kultur-Deseration und Rückschrittlichkeit geändert? Wir erleben die Wissenschaft seit Ausbruch der Pandemie in einer vollkommen neuen Gestalt. Diese Gestalt ist nicht etwa jene, die kurz in Erscheinung tritt und nach der Pandemie in ihre alte zurückkehren oder gar in Vergessenheit geraten wird. Die Pandemie wird unsere Haltung zum Verhältnis Wissenschaft und Politik langfristig prägen. Sie ist nicht was sie war und wird nicht was wir denken.

In die Geschichte geht sie als historisches Fragment einer hypertroph daherkommenden und gestaltgebenden Macht aus Politik, gesellschaftlicher Unsicherheit und mediales Expertengetue, in der sich die ausweglose Verzweiflung zwischen politischer Verantwortung und ethischer Verpflichtung in keinem Moment überspielen ließ. Trotz aller Mühen. Daneben hat die Wissenschaft ihre politische Rolle bemerkbar verstärkt, unser soziales Leben und unsere Haltung gegenüber der Tagespolitik wesentlich geprägt. Immer wieder geriet sie ins zerstörerische Kreuzfeuer hitziger Corona-Debatten zwischen politisch aktiven Bewegungsgruppen und medial angefeuerten Schlammschlachten, die sich an Taten und Untaten involvierter Akteure aus allen erdenklichen gesellschaftlichen Ecken und Schichten entzündet hatten.

Sie stand und steht im ungewollten Zusammenhang mit der Entstehung neuer, sich gegen die politischen Entscheidungen auflehnenden Gruppierungen und Akteure. Sie steht ebenso in ungewollter Verbindung mit Prozessen, die die politische Landschaft dieses Landes nachhaltig verändern werden und es bereits getan haben. Und sie steht in Zusammenhang mit einem zeitgeschichtlichen Abschnitt, in der sie ihre eigene Geschichte neu geschrieben hat und es noch tut. In der Corona-Pandemie äußerte sich ein lang zurückgehaltener und in nahezu allen Teilen der Gesellschaft irgendwie zum Ausdruck gebrachter Entschluss, nicht mehr leben zu wollen wie bisher. Zukunftsblogs und politische Wahrsager haben sich in ihren Prophezeiungen vielfach überschlagen. Um Wahrheiten ist es nicht immer gegangen. Vielmehr wollte man zu jenen gehören, die eine unmissverständlich bevorstehende und tiefgreifende Veränderung als eine der ersten verkündet und erkannt haben wollten. Ins Auge fällt insbesondere die Entstehung bzw. das plötzliche Erstarken von Jungparteien und deren Parteiprogramme.

Die Pandemie ist geschwängert vom Wunsch eines neuen ökologischen Zeitalters und einer eben diesen unterstützenden Digitalisierung, die fast von alleine entscheidet, abwägt und Effizienz ermöglicht. Und da ist die Corona-Jugend die das Ende der Politikmüdigkeit markiert und die Ressourcen der segensreichen Digitalität bis zur völligen Machtentfaltung treibt. Nichts scheint unerreichbar. Und nichts liefert den politischen Zielsetzungen bessere Argumente, als die mit dem Klima und der aufkommender Digitalität verwobenen Herausforderungen der unendlich chaotischen Gegenwart. Die Pandemie als Schmelztiegel eines neues Weltverständnisses, in der sich so viele globale Überschneidungen finden, wie in keinem anderen zeitgeschichtlichen Moment seit dem Zweiten Weltkrieg. Man möchte aufopfern, verzichten und gestalten.

Die neue Weltordnung ist keine Frage der Wahrscheinlichkeit. Auf dem Weg dorthin wird so lange aussortiert und gefügig gemacht, bis auch die letzten politischen Widersacher in die Knie gezwungen werden. Der Weg dahin ist unschön. Was die Wissenschaft angeht, zeigen sich zutiefst unkonventionelle Wege. Fast unwürdig möchte man sagen. Längst hat sich die wissenschaftliche Debatte von ihrer konstruktiv-professionellen Tradition in Austausch und Zusammenarbeit losgelöst und liefert in etablierten Polittalks unrühmliche Fehlerkompilationen, in der es nicht mehr um die Würdigung des Muts und der Wagnis geht, sondern darum, unverhohlen zu sagen, wie dumm sich ein anderer Wissenschaftler in seiner ambitionierten Forschungsmethode angestellt hat.

Die daraus resultierende Angst, dass Wissenschaft zwischen journalistischem Übereifer und wutschnaubender Politik zum Gegenstand alltäglicher Frivolität der sensationellen Berichterstattung verkommen könnte, war genau deshalb niemals reine Illusion oder subjektiver Irrsinn. Sie steht im wechselhaften und lagebedingten Spannungsverhältnis einer inkonsistenten Politik, die im ganzen Wirrwarr auch noch Zeit findet, eine am Volkswillen vorbeiziehende Ökopolitik durchzuboxen. Ungünstig deshalb, weil sie offensichtlich unvermittelt in ein starrsinnigen Antagonismus führt, in der die Corona-Politik und mit einer taktlosen Durchsetzung von grünen Zielen gesehen wird, die auf dem Rücken jener geschieht, die dadurch in nicht vertretbare Nachteile geraten könnten. Stichwort Benzinpreisziele (Bearbock) . Ein weiterer Knoten in einer beispiellosen Unüberschaubarkeit also. Wir erleben eine politische Wissenschaft, wie es sich zuvor noch nie gezeigt hat. Gab es eine politische Verstrickung der Wissenschaft und Politik wie wir sie dieser Tage erleben doch zuletzt nur im Dritten Reich. Seit dem ist sie vor allem Eines: Unabhängig. Sie ist als politikferne und dennoch egalitär wirkende, intentionale und über alle ideologischen Auswüchse stehende unerschütterliche Kraft, die ihr bisheriges Bestehen der empirisch-unabhängigen Kunst der Beobachtung, Auswertung und Zusammenführung verdankt und tritt nun beinahe täglich im Auftrag einer uneinigen Regierung auf, um mit ihren Einschätzungen politische Prozesse wesentlich mitzugestalten. Nicht nur das. Man wird das immer stärker aufkommende Gefühl nicht los, dass sich in der ursprüngliche Rollenverteilung des Förderers und Geförderten eine Umkehrung vollzogen hat.

Die Wissenschaft berät und unterstützt die Politik in Pandemie-Fragen. Im Grunde ist der Einfluss und die Position der Wissenschaft eine richtige Sache. Denn unbestreitbar ist: Sie ist Widerstand, Häresie, Aufruf, Ermahnung und Aufklärung. Sie ist nicht nur eine Art Anker der kollektiven Vernunft. Sie komplementiert das komplexe Verhältnis im Konstrukt unserer hochgelobten freiheitlichen Demokratie. Sie ist Schutz, Zuflucht und Hoffnung. Gemeinsam mit dem Journalismus und der Politik, steht sie in einem für unsere Gesellschaft bezeichnenden Verhältnis, an deren gegenseitig gesetzmäßig geregelten Bedingungen sich die Stabilität unserer Demokratie messen lässt. Und dabei ist jedes noch so mögliche Szenario einer Unverhältnismäßigkeit innerhalb dieses Dreiecks eng mit den Erfahrungen aus der deutschen Vergangenheit verknüpft. Und aus diesem Grund kann und wird sich die „deutsche“ Wissenschaft nicht mit jener Definition übereinstimmen lassen, der sich die internationale Gemeinde fügt. Vielleicht kann man hier den Grund für ihre politischen Abenteuer finden.

Die unabhängige Wissenschaft ist für unsere gesellschaftliche Freiheit konstitutiv wie in keinem anderen Staat. Und sie führt im historischen Rückblick zu keiner guten Erinnerung. Im Zusammenspiel mit der Corona-Politik hat sie die Themendominanz und das Informationsbedürfnis in eine Dimension gerückt, die seit der Nachkriegsgeschichte nicht mehr erlebt wurde. Zunächst nicht weiter schlimm. Unberuhigend dagegen ist die die Tatsache, dass sich situationsbedingter Sensationalismus und verantwortungsvoller Journalismus in turbulenten Zeiten wie dieser Tage schwer unterscheiden lassen. Und wir müssten uns ja auch gar nicht darum bemühen, wenn dem Journalismus als Mahner und Hüter der demokratisch freiheitlichen Ordnung vertraut werden könnte. Im Dreieck Politik, Journalismus und Wissenschaft sollte eine Distanz vorhanden sein, die ein bestimmtes Maß an Objektivität, Unbefangenheit und Augenmaß sichert. Davon kann in Deutschland nicht die Rede sein.

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