FeuilletonMeinung

Niemand hat vor, die tatsächliche Geschichte indigener Völker durch Karl May zu ersetzen

Ich bin Halil. Der, der euch immer mit neuen Debatten nervt 🙂

Hin- und hergerissen zwischen dem Pflichtgefühl Kulturgut zu wahren und zeitgemäße Urteilskraft walten zu lassen.

Der Krieg hat neue Lebensbedingungen geschaffen und der Wohlstand, den wir bisher gewohnt waren wird erst mal beurlaubt. Und eigentlich dürfte die Menschen nichts mehr beschäftigen, als der Blick in die eigene finanzielle Zukunft. Auf den gefährdeten Wohlstand. Im Stundentakt liest man über die gemutmaßten, nicht auszudenkenden Folgen, die durch den anhaltenden Krieg zwischen der Ukraine und Russland das gewohnte Leben auf den Kopf stellen könnten. Aber scheinbar gibt es noch genug Nerven, um einige kolossale Moralerschütterungen herbeizuführen, diese dann direkt an einen sprachlichen Deutungskrieg zu knüpfen, um eine Art erweiterte, hochempfindliche und epistemologisch anmutende Geisteshaltung zu etablieren. Wir wollen Kultur leben. Aber nur mit der höchst gebotenen Vorsicht auf jede noch so denkbar neu aufkeimende Ideologie eines woken Daseins. Beinahe stellen Winnetou und damit verbundene Rassismusdebatten das möglicherweise bevorstehende Chaos aus neuen Corona-Maßnahmen und steigenden Preisen in den Schatten.

„Fakten wurden in der medialen Debatte vollkommen verdreht“

Zur Debatte steht deutsches Kulturgut. Schon lange entzünden sich hitzige politische Streitereien an alten deutschen Romanen, Kindergeschichten und Kinderliedern. Winnetou ist lediglich ein Paradebeispiel. Musterhaft, weil hier die zum Teil ausweglose Verzweiflung unübersehbar ist. Hin- und hergerissen zwischen dem Pflichtgefühl Kulturgut zu wahren und zeitgemäße Urteilskraft walten zu lassen. Die oft durch Medien suggerierte gesellschaftliche Empörung ist mehr Schein als Sein. Fakten werden oft verdreht, Ereignisse zum Skandal aufgeblasen. So ähnlich sieht es auch der Chefredakteur der T-Online. Im Podcast zur Winnetou-Debatte stellte Harms klar, dass Fakten in der medialen Debatte vollkommen verdreht wurden. In Wirklichkeit waren es nur 180 Menschen, die sich in den sozialen Netzwerken kritisch zum Winnetou-Film geäußert hatten. Eine Minderheit also, vermutlich ohne Kompetenz, die hier eine Deutungshoheit für sich beansprucht. Auch ein Kunstpädagoge und Mitarbeiter der Karl May Gesellschaft Andreas Brenner spricht von einer kleinen Community, die seines Erachtens kein Anspruch darauf hat, beabsichtigten Rassismus festzulegen. Tatsächlich war die mehr interpretierte als tatsächliche rassistische Dimension in Karl Mays Werken vielen Menschen nicht einmal bewusst.

Durch stumpfes Verbieten und Abschaffen, werden wichtige Merkmale des europäischen, aufgeklärten Geistes gefährdet

Dass sich Ideale ändern, ganz egal ob es sich um kulturelle Bildung, Kunst oder die Interpretation bestimmter künstlerischer Formen handelt, steht außer Frage. Aber Kunst entsteht eben unter dem Eindruck seiner zeitgeistlichen Stimmung, Emotion, Leidenschaft und Intention. Geprägt wird dabei ein Weltbild mit herbeigewünschtem oder zum Teil gelebtem Ideal. Gespeist aus Erlebnissen und Vorstellungen. Auch dem Kulturphilosoph Egon Friedell war dies kein neues Phänomen. Jedes Zeitalter, ja fast jede Generation, so Friedell, hat eben ein anderes Ideal und mit dem Ideal ändert sich auch der Blick in die einzelnen großen Abschnitte der Vergangenheit. Und immer wandele sich ja damit auch der Blick auf die Dinge. Zwischen Empörung und Begeisterung sind Nuancen der Gefühle. Man teilt den abenteuerlichen Blick des Künstlers und Schriftstellers May auf einen Zeitabschnitt der Geschichte, den es so nie gegeben haben kann. Dem Leser öffnet sich ein Abdriften und farbenfrohes Brodeln der Kulturen oder eben jener Vorstellungen darüber. Ein Weißer versteht sich mit einem Indianer oder einem Menschen aus der indigenen Bevölkerung, sie sehen sich als Brüder, kämpfen für Gerechtigkeit, erleben Abenteuer. Der Leser entscheidet mit welchem Blick er darauf sieht. Es wird, je nachdem, zum verklärenden, vergoldenden, hypostasierenden Blick oder zum vergiftenden, schwärzenden, obtrektierenden, zum bösen Blick, so Friedell in Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Kunst liegt also weniger im stumpfen Verbieten oder Abschaffen. Unsere hoch gelobte geschliffene Bildung und Erkennungsfähigkeit, die wir als Merkmal eines aufgeklärten europäischen Geistes preisen, sollte Analysen und sachliche Debatten nicht scheuen. Auch nicht dann, wenn wir beobachten können, wie manche Darstellungen förmlich aus der Zeit fallen. Natürlich kann es sein, dass May Menschen der indigenen Bevölkerung nicht als Repräsentanten und Träger einer beeindruckenden Hochkultur gesehen hat. Aber ist es unsere Aufgabe, diesen Eindruck auf unsere gegenwärtige Auffassung zu übertragen?

„Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte soll man dichten“

Verharmlosung von Massenmord und Vertreibung geschieht bereits in zahllosen Parodien und Comedyfilmen zum Dritten Reich. Demnach müssten alle Filme, die sich auch nur annähernd mit Gräueltaten oder einer dunklen Phase der Menschheitsgeschichte befassen, revidiert werden. Die Frage ist doch, ob sich Geschichte überhaupt in Kunst oder anderen Unterhaltungsformaten auf streng sachlicher Ebene behandeln lässt. Die stetig aus ihrer Zeit wachsende Kunst, ganz egal ob in Schrift oder Bild, lässt sich niemals auf den universellen und normativen Blick einer zeitgemäßen und geordneten Kulturdebatte ausrichten. Friedell sieht das nicht einmal in der Geschichtswissenschaft gegeben. Geschichte wissenschaftlich behandeln zu wollen, sei im Grunde immer etwas widerspruchsvolles. Natur solle man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte solle man dichten. Alles andere seien unreine Lösungen. Heute würde man das natürlich vorsichtiger formulieren. Der Unterschied zwischen einem Historiker und einem Dichter sei nur ein gradueller. Die Grenze, vor der die Fantasie halt zu machen hat, sei für den Historiker der Stand des Geschichtswissens in Fachkreisen, für den Dichter der Stand des Geschichtswissens im Publikum. Der Anteil der wahrgenommenen Intention zur Unterhaltung überwiegt in Mays Büchern der einer gewollten detaillierten und wahrheitsgemäßen Geschichtsdarstellung. Und nicht immer war es eben die grausame Wahrheit der Geschichte, mit dem sich Menschen gegenseitig unterhielten.

Die größten Lügen zur Geschichte haben die größten Geister geprägt

Es handelt sich nicht um das, was die greifbaren Tatsachen der Geschichte an und für sich, als Erscheinung zu irgendeiner Zeit sind, sondern um das, was sie durch ihre Erscheinung bedeuten oder andeuten, so Oswald Spengler in seinem epochalen Werk Der Untergang des Abendlandes. Die korrekte und wahrheitsgemäße Darstellung der wirklichen Vergangenheit hat in der Geschichte der Literatur selten Anerkennung und Praxis gefunden. Nicht weil man sich einer Utopie in Kunst und Kultur begeben hatte. Sondern nur deshalb, weil die größten Lügen zur Geschichte die Epochen und großen Geister geprägt haben. Sie sind über die Zeit gewachsen, haben uns begeistert und Interesse an Tatsachen geweckt. Selbst bei Polybios und Tacitus sei die Sicherheit des Blickes sofort verloren gegangen, als sie in der Vergangenheit, oft weniger Jahrzehnte, auf treibende Kräfte gestoßen waren, die ihnen in dieser Gestalt aus ihrer eigene Praxis unbekannt waren. Überhaupt sei die antike Geschichte bis auf die Perser herab, aber auch noch der überlieferte Aufbau sehr viel späterer Perioden das Produkt wesentlich mystischen Denkens. In Winnetou geht es nicht einmal darum, Geschichte in irgendeiner Form darzustellen. Es ist reine Unterhaltung. Man kann es mögen oder eben nicht. Niemand hat vor, die Geschichte durch Karl May zu ersetzen.

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