Feuilleton

Europa mitten in der Symbolpolitik. Wir sind Europa. Wir haben Recht.

Halil Celiksoy

Deutschland hat sich die Friedenspolitik nicht nur aufgrund ihrer Nazi-Vergangenheit auf die Fahne geschrieben. Europa als Sicherer des Friedens und als Festung der Menschenwürde und des Völkerfriedens erfordert eine humanistische und pazifistische Haltung, die weit über die weltpolitischen Herausforderungen der Gegenwart hinaus geht. Geschichte und Zukunft gestalten das Handeln von Heute. Davon ist in der überstürzten und emotionalen Ukraine-Politik nicht viel geblieben. Ein Blick auf das, was Europa wirklich braucht.

Die neue Angst der Europäer

In den Salzburger Nachrichten hatten zu Beginn des Ukraine Konflikts im Februar Schüler ihre Betroffenheit und Gefühle gegenüber den bewaffneten Konflikten zu Wort gebracht. Verständlich wenn man bedenkt, dass Salzburg nur 700 Kilometer von der Ukraine entfernt liegt. Da herrscht im Alltag schon mal die Angst vor den folgen eines plötzlichen außer Kontrolle geratenen Krieges vor. „In der Schule reden wir viel über dieses Thema. Einige von uns haben Angst, dass die NATO irgendwann in den Krieg eingreift und ein dritter Weltkrieg beginnt“, so die 13 jährige Raphaela Ehinger, die das Bundesgymnasium Zaunergasse besucht. Manche andere, und sie eingeschlossen, würden denken, dass das sehr unwahrscheinlich sei, da die NATO ja im Grunde den Frieden erhalten soll. Eine andere Schülerin, die 13 Jahre alte Nora Grössenberger, die die Mittelschule in Obertrum besucht, sprach gar von einer leichten Angst vor einem drohenden Krieg. Ihr würden alle Menschen Leid tun, die in den Gegenden des Konflikts wohnten. Seit wann ist der Krieg so in unser Bewusstsein gerückt? Seit wann verstehen wir plötzlich, dass es Menschen in Kriegsgebieten schrecklich gehen muss? Krieg ist ein Elendszustand von dem sich unsere Gesellschaft bislang mehr als nicht betroffen fühlte. Und Krieg lebte bislang auch in der einen abwehrenden Vorstellung, niemals auch nur in die Nähe der sicher geglaubten europäischen Festung kommen zu können. Denn wo Wohlstand und gefestigte moralische und ethische Vorstellungen mit den demokratischen Werten einer humanistisch geprägten Gemeinschaft verbunden sind und sich jedes Individuum dieser bis in alle Lebensbereiche reichenden Verflechtung bewusst ist, kann der Krieg nur das Handwerk jener sein, die sich fernab dieser europäischen Haltung in tiefster Barbarei befinden. Aber das ist die EU.

Wie sicher, gerecht und verantwortungsbewusst wähnten wir uns doch, in diesem Europa zu leben.

Was wurde uns in den imposantesten Werken zur europäischen Geschichte nicht alles vermittelt? Europa als Wiege und Garant der Zivilisation, als fruchtbarer Boden für die Demokratie, als Biotop für steile Denkkünste, die sich in Menschheitsfragen verlieren und unaufhörlich philosophische Fragen des Dürfens und Müssens hervorbringen. Eine Erfolgsstory der Menschheit, dessen Linearität von der Erfindung der Demokratie in Griechenland über die Aufklärung bis zum Sieg über das Dritte Reich und der darauf folgenden rasanten Entfaltung des Wohlstands und der Sicherheit, wie ein von Natur aus gesetzter Weg zur Reife eines so gewollten europäischen Geistes anmutet. Ein Lebenszyklus wie es bereits Spengler im Bezug auf Hochkulturen erwähnt hatte. Über den Untergang am Ende wollen wir hier nicht reden. Deutschland, gefallen und aufgestanden, steht als einstiger Motor dieses Pakts im Mittelpunkt dieser Festung. Verpflichtet durch unrühmliche Erinnerungen an die eigene Nazi-Vergangenheit, angetrieben vom Gedanken, alles wieder gut zu machen und idealisiert durch den Traum, alles für den Völkerfrieden tun zu müssen. Deutschland im Mittelpunkt Europas. Geschichtlich wie auch geografisch. Vom Krieg hatte man abgeschworen, nach dem Millionen unschuldige Menschen einer teuflischen und menschenverachtenden Rassentheorie zum Opfer gefallen waren. Und während die Alliierten das entnazifizierte Deutschland nach und nach sich selbst überließen, wuchs auch immer mehr die Überzeugung, dass man in Zukunft niemals wieder für Krieg, Hass und allem damit verbunden Leid verantwortlich sein möchte. Wie sicher, gerecht und verantwortungsbewusst wähnten wir uns doch in einem Europa zu leben, das die Menschenwürde und den Völkerfrieden zum Leitgedanken seiner politischen Grundhaltung gegenüber dem Rest der Welt gemacht hatte. Europa. Hier redet man tatsächlich noch über die Zukunft der Welt, bündelt Kräfte, reflektiert die Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit, überbrückt Gefälle und schafft Verbindungen, wächst mit jedem Konflikt um eine Erfahrung weiter.

Höchstwahrscheinlich sind wir auf der richtigen Seite. Egal, jetzt ist erst mal Krieg.

Krieg nahm in der bunten europäischen Verwirklichung der letzten Jahrzehnte immer weniger Platz ein. Zumindest in der Sprache. Jeder von uns hat sich das europäische Handeln, Denken und Fühlen auch irgendwie angeeignet. Diplomatie, Rationalität und eine von guter Bildung geprägte Geisteshaltung sind ja nicht nur Ausdruck einer erkennbaren, historisch geprägten und europäischen Weltpolitik, sondern auch etwas, das vom Individuum gerne mitgetragen wird. Nennen wir es Kultur. Wir leben in ihr. Wir hinterfragen sie nicht. Wir identifizieren uns damit, binden sie in unsere scharfen Beurteilungen, Bewertungen und ideellen Haltungen mit ein, erklären uns damit, was mir möchten und nicht möchten, versprechen uns auf unabsehbare Zeit eine bessere Zukunft. Es geht auch immer weit über unsere denk- und lebbare Zeitspanne hinaus. Kultur ist, was wir an eine uns fremde, nach uns bestehende Menschheit weitergeben möchten, weil wir glauben, den unschönen Begleiterscheinungen der menschlichen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit damit am besten entgegenwirken konnten. Es ist etwas, woran wir all das Verknüpfen, was wir in unserem bisherigen kurzen Leben als notwendige Lebensbedingung für den Menschen als Individuum angesehen und als solches erkannt haben. Am Ende zeitgeschichtlicher Prozesse, in denen solche geistigen Wandlungen positiv voranschreiten, werden alle bestehenden und vermeintlichen Rechtfertigungen für einen Krieg oder auch nur einer passiven Beteiligung verdrängt und schlussendlich abgeschafft. Und genau jetzt muss ich den Leser bitten, alles bisher gelesene kurz auszublenden. Wir führen Krieg. Ja, Moral, Völkerverständigung, Europa als Festung des Friedens und der Zusammenkunft….ist doch egal. Jetzt müssen wir Krieg führen. Und höchstwahrscheinlich sind wir auf der richtigen Seite. Egal, jetzt ist erst mal der Krieg. Gründe haben wir natürlich auch.

Symbolpolitik und kollektives Wütendsein bei allem, was den Verdacht auf fehlerhaftes Verhalten seitens Europa nähren könnte.

Heute gibt es so viele moralisch und geostrategisch behaftete Gründe für eine Waffenlieferung an Länder, die sich in einem handfesten Konflikt befinden. Die Popularität des Unworts Stellvertreterkrieg hat der deutsche Gerechtigkeitssinn selbst in die eigene pazifistische Rhetorik katapultiert. Heute wird es benutzt, um mit der Waffe in der Hand auf andere zu zeigen. Symbolpolitik und kollektives Wütendsein bei allem, was den Verdacht fehlerhafter Handlungen seitens Europa nähren könnte. Wir führen Krieg, aber wir sind die Guten möchte man kurz sagen. Wenn wir Krieg führen, geht es zweifelsfrei um friedliche Ambitionen, um Stabilisierung, Sicherheit und ja, um Demokratie. Es geht darum Festungen zu wahren, der linearen Geschichte Europas einen Fortsatz in der Gegenwart des Chaos zu bieten. Also kann es nur besser werden. Wir erwarten, dass es alle verstehen. Deutschland erwartet in diesem Krieg etwas, was es anderen Staaten nie bieten konnte: Verständnis für seine politischen und strategischen Interessen. Verständnis dafür, dass der derzeitige Krieg als letztes Mittel der Wahl angesehen wird. Wer hat Verständnis für das palästinensische Volk gezeigt? Für dortige Kinder, die nur noch die Steine ihrer zerfallenen Häuser gegen ihre Feinde schmettern konnten. Wer hat dafür Verständnis gezeigt, dass das palästinensische Volk nach 30 Jahren Einkesselung und Ermordung von Frauen und Kindern nur noch zu Waffen greifen konnte? In der Gegenüberstellung dieser zweier Aspekte fällt die große Überheblichkeit und Arroganz der europäischen Haltung gegenüber den Rest der Welt ins Auge.

Europa geht nach eigener Definition von Recht und Verbrechen

Man definiert und ordnet zeitgeschichtliche und politische Ereignisse nach eigenen Maßstäben der Gerechtigkeit und Legitimation und erklärt diese Schablone der Vorgehensweisen für Bildung und Kultur erster Ordnung. Das macht der Deutsche übrigens sehr gerne. Er glänzt mit dem Lob auf die eigne Bildung. Niemand in der Politik hat sich auch nur ansatzweise für die beschämende Kriegsbeteiligung, die peinliche mediale und politische Denunziation und Diskreditierung eines ganzen Landes geschämt. Russland ist der Feind der Stunde und daran möchte man festhalten bis man sein Wohlwollen verstanden weiß. Und Krieg. Ja, Krieg ist grausam. Jeder will das plötzlich verstanden haben. Und jeder will wissen: Dem kann man nur bewaffnet entgegentreten. Aber was seit 30 Jahren in Palästina durch das israelische Militär geschieht, ist außerhalb unseres Blickwinkels. Man flüchtet da schnell und gerne mal in die Antisemitismusdebatte. Dass Israel aber dort aktiv Menschen tötet, schikaniert und verfolgt gehört nicht zum sichtbaren offiziellen news-ticker-verschönerten Krieg. Oder die Verfolgung von Uiguren in China. Nach einer kurzen Erwähnung in der Verschnaufpause zwischen Corona und Ukraine, ist es wieder aus dem Sinn. So bleiben Empörung und Betroffenheit lediglich zwischen Sofa und Kühlschrank, beim abendlichen Fernsehen. Denn da kann man wieder in Sicherheit lebend urteilen, bewerten und Feinde ausmachen, die man für verantwortlich hält. Und so lange sich der Krieg nicht vor der Haustüre abspielt, ist es doch egal,ob man damit nun richtig liegt oder nicht. Schließlich ist man Europäer.

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