Politik

Im Kreuzfeuer. Wie Deutschland sein Ansehen demontierte

Der geplante Ukraine-Besuch des deutschen Bundespräsidenten wird durch Kiew abgesagt und Türkei und Russland verbinden sich zu einer neuen diplomatischen Achse in Fragen zum Waffenstillstand. Eine Reihe von falschen Entscheidungen der Bundesregierung und die verspätete Einsicht russlandfreundlicher Politiker, führen zu einem Kettengebilde inkonsistenter Außenpolitik. Eine Verschiebung der Machtverhältnisse setzt sich in Bewegung, die Deutschland als Motor der Europäischen Union ablösen könnte.

„Krieg in Europa?“

Lange hielten einige deutsche Politikgrößen, trotz harscher Kritik, an ihrer traditionell anmutenden Russlandpolitik. Einer von ihnen, der deutsche Präsident Frank Walter Steinmeier, hat sich im Lärm des Ukraine-Konflikts einsichtig zu seinem Russland-Verhältnis in der Vergangenheit geäußert. Auch hat er schon weit vor der russischen Invasion vor einem militärischen Konflikt in Osteuropa gewarnt. Und er legte fest, dass die Verantwortung dafür von Russland ausgehe. Sein Einsatz für Nord Stream 2 gegen den Protest der Nachbarstaaten sei falsch gewesen, räumte Steinmeier unmissverständlich ein. Ferner seien er und andere deutsche Abgeordnete mit ihrer Russland Politik gescheitert und genau wie diese habe auch Steinmeier sich geirrt. Ganz anders dagegen Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. In einer am 28. Januar veröffentlichen Podcast-Folge unter dem fragenden Titel „Krieg in Europa?“ wirft Schröder, Vorsitzender von Nord Stream und langjähriger Freund von Wladimir Putin, dem deutschen Außenministerium eklatantes Fehlverhalten vor.

Die Außenministerin Baerbock hätte Kiew nicht vor ihrer Reise nach Moskau besuchen sollen, sagte Schröder. Weiter sprach er von einem „Säbelrasseln aus der Ukraine, von dem er hoffe, dass es bald aufhöre. Die ukrainische Kritik an der Ablehnung der Waffenlieferung durch Deutschland bezeichnete er als „empörend“. Hohn und Spott schütteten sich daraufhin über den Ex-Bundeskanzler aus. Im März reiste Schröder dann ohne eine Abstimmung mit der Bundesregierung nach Moskau und traf sich mit dem russischen Präsidenten. Nach Zögern forderte Schröder dann zwei Tage nach dem Einmarsch seine zweite Heimat öffentlich auf LinkedIn auf, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Die lukrativen Posten im Gasgeschäft haben für Schröder ohne Zweifel Vorrang. Und das weiß der Kreml ausgeklügelt für sich zu nutzen. Russlands Provokation mit der Nominierung Schröders als Aufsichtsrat für den Energieriesen Gazprom, drei Wochen vor der militärischen Offensive, geht auf. Der russische Spaltungsversuch als Reaktion auf die wachsende Ablehnung der Bundesregierung zu Nord Stream 2 wird vom Auswärtigem Ausschuss im Bundestag als Versuch einer Diskreditierung verstanden.

Die deutsche Zurückhaltung trat als politische Hybriderscheinung auf.

Russisches Gas ist das politische Provokations- und Druckmittel der Stunde, mit dem sich die brisantesten Szenarien des Zusammenbruchs für Wirtschaft und Wohlstand verbinden lassen. Die wachsende Angst eines Energiekollaps baut mit den näher rückenden Bedrohungen nicht mehr länger auf reine Spekulation. Und die Folgen wirtschaftlicher Tragweite sind für die Bundesregierung keine solchen, die sich leicht ignorieren lassen. Der Kalte Krieg hat eine deutsche Außenpolitik geformt, die eine stark vernetzte wirtschaftliche Beziehung zwischen Ost und West als langfristigen Garant für den dauerhaften Frieden erkannte. Deutschlands viel kritisierte Zurückhaltung und undeutliche Politik am Anfang des Ukraine-Konflikts ist als Hybriderscheinung aus wirtschaftlichen und moralischen Befürchtungen aufgetreten. Deutschland und Europa seien in einem erheblichen Ausmaß von Energieimporten aus Russland abhängig, heißt es in einer Untersuchung unter dem Titel “Abhängigkeit von Energieimporten: Risiko für Deutschland und Europa?” von Matthias Basedau und Kim Schultze. Und auch das engagierte Verfechten von Nord Straem 2 durch den Bundespräsidenten offenbarte ungewollt eine komplizierte Verstrickung wirtschaftlicher Abhängigkeit.

In der Rede nach seiner Wiederwahl durch die Bundesversammlung im Februar, hatte sich Steinmeier mit unmissverständlichem Appell an Russlands Präsident Putin gewandt. Man werde jedem entschlossen gegenüber treten, der die Selbstbestimmung und Souveränität der Ukraine zerstören wolle. Von dieser klaren Haltung war nach dem Einmarsch russischer Truppen im Februar nicht mehr viel geblieben. Im Gegenteil. Die deutsche Zurückhaltung hat Kiew verärgert. Noch im Januar betonte der ukrainische Außenminister, dass man mit Deutschland bei der Stunde der Wahrheit angelangt war. Die verspätete Einsicht einer Unterstützung mit Waffen und die überfällige Selbstkritik zu fragwürdigen wirtschaftlichen Beziehungen, wie im Fall Steinmeier, wird das neue verzerrte Bild Deutschlands nicht ganz verändern können. Der Ernst der Lage wurde an der Absage des geplanten Besuchs des Bundespräsidenten Anfang April deutlich. Die Bundesregierung hatte den Tiefpunkt ihrer diplomatischen Talfahrt erreicht, obwohl sich Scholz weit vorher schon für eine klare Seite entschieden hatte.

Komplizierte Vorbehalte und bundesdeutsche Denkkunst führten zur außenpolitischen Krise.

Am 26. Februar twitterte der Bundeskanzler, der russische Überfall markiere eine Zeitwende und erklärte diesen Schritt als „unsere Pflicht, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen bei der Verteidigung gegen die Invasionsarmee von Wladimir Putin.“ Die Entscheidung der Bundesregierung wurde durch den ukrainischen Botschafter Melnyk in Berlin dann auch als 180-Grad-Wende gewürdigt und gelobt. Man versuchte sich vor diesem Schritt der entschlossenen Haltung in nicht enden wollender ausgesuchter Rede und aufpolierter bundespolitischer Denkkunst. Endlich aber sah auch Melnyk die Deutschen „aufwachen“ wie er sagte und fügte hinzu, dass es nicht zu spät sei. Dennoch- auch nach der scharfen Kehrtwende genießt die Zuverlässigkeit Deutschlands und seine Rolle als verantwortungsbewusste und tatkräftige Industrienation nicht den einstigen Ruhm in der Vergangenheit. Irgendwo griff man immer das Imperativ der Verantwortung als Tragsäule deutscher Politik auf, doch es wird und wurde in den meistens lautstark geführten Vorträgen im Bundestag aufgrund des inflationären Gebrauchs mehr überhört als gehört. Und das auch nur als magere Überleitung, um dann unklare aber wirksame Theorien komplizierter Vorbehalte in die Köpfe zu sähen.

Die außenpolitische Krise der neuen Bundesregierung erntete Zweifel, die sich in Zukunft wohl nicht nur an den Ukraine-Konflikt knüpfen werden. Zu allem Ärgernis belastete die Äußerung des einstigen Inspekteurs der deutschen Marine, Kay-Achim Schönbach die ohnehin angespannte Situation zum Ukraine-Konflikt. Vor laufender Kamera hatte dieser von einem Respekt auf Augenhöhe gesprochen, den Putin wolle und eigentlich auch verdient hätte. Den befürchteten Einmarsch russischer Truppen bezeichnete er als „Nonsens“. Innerhalb von 24 Stunden wurde Schönbach seinen Job als Marineinspekteur los. Als Beweis für eine einige politische Haltung der deutschen Regierung wurde dieser konsequente Schritt trotzdem nicht bewertet. Schon längst hatte Deutschland in den USA und einigen osteuropäischen Staaten an Authentizität eingebüßt. Dabei hatte die von März bis April des letzten Jahres andauernde militärische Aufrüstung nahe der russisch-ukrainischen Grenze, der sich eine weitere ab Oktober `21 bis zum Beginn des Konflikts anschloss, keinen Grund für einen Zweifel gegeben, dass Russland ein Eindringen in die Ukraine vorbereitete.

Deutschland kann mit Krieg nicht umgehen. An dieser Tatsache wird die internationale Gemeinschaft führender Industrienationen wachsen müssen.

Anfang Dezember `21 durch die USA veröffentlichte Informationen über russische Invasionsvorhaben mit entsprechend überzeugenden Satellitenfotos, brachten die Spannung dann zur vollen Reife, in der niemand mehr an der bedrohten Sicherheit der Ukraine zweifeln konnte. Trotz der offensichtlichen russischen Aggression lehnte Berlin die ukrainische Bitte, Verteidigungswaffen zu liefern, trocken ab. Kurz nach der zweiten russischen Aufrüstungsphase an der ukrainischen Grenze, hatte Verteidigungsminister Oleksij Resnikow Deutschland im Dezember beschuldigt, dringend notwendige Waffenlieferungen über die Nato zu verhindern. Die wachsende Kette von inkonsistenten Entscheidungen hat das Ansehen der Bundesregierung zusehends demontiert. Seit Februar ist es schwieriger geworden, ein sonst immer als geradlinig gekanntes Deutschland mit klarer Haltung zum Völkerrecht ernst zu nehmen. Ein Land, das mit seiner komplexen und stark vergangenheitsbehafteten Rolle mit Vorliebe als Führungsnation kokettiert, aber den harten Bedingungen eines plötzlichen Kriegs an den nahen Grenzen dennoch nicht gewachsen zu sein scheint. Und auch das ist längst zur Weltgemeinde durchgedrungen: Deutschland kann mit Krieg nicht umgehen.

Die deutsche Außenpolitik eierte zu lange zwischen pazifistischem Gehabe und gespielter Entschlossenheit. Nicht einmal der Begriff der Völkerrechtsverletzung konnte bestehende Ambivalenzen in der uneinigen deutschen Politik auf Anhieb beheben. Die gut gemeinte und sture Enthaltung traf auf wachsende Negation und bittere Enttäuschung durch andere Staaten. An dieser Tatsache wird die internationale Gemeinschaft führender Industrienationen wachsen müssen. Eine durch Not getriebene Friedenspolitik dieser Dimension, ohne die viel geachtete und konsequente deutsche Instanz, deutet auf bezeichnende und folgenreiche Verschiebungen in der europäischen Ordnung. Für Todfeinde erklärte Länder fanden unter diesen extremen Bedingungen neue Beziehungsgrundlagen. Der Ukraine-Konflikt ermöglichte politische Kooperationen, die den Entwicklungen der internationalen Beziehungen des letzten Jahrzehnts entgegenstehen.

Was die Demokratie im Bundestag nicht stemmen konnte, schafft das autoritäre Präsidialsystem der Türkei.

Angesichts der akuten Kriegsgefahr im europäischen Osten, schlossen sich Bündnisse, die sich der humanitären Arbeit verschrieben und dafür alte Konflikte beiseite legten. So setzte Frankreich den Plan in Gang, gemeinsam mit der Türkei und Griechenland die Evakuierung von Zivilisten aus Mariupol zu starten. Es ging um die Rettung 15.000 verbliebener und vom Krieg traumatisierter Menschen, die unter dramatischen Bedingungen lebten. Und dem erfahrenen türkischen Außenminister Cavusoglu gelang es, sich in den Mittelpunkt der diplomatischen Gespräche zu bringen. Die Türkei hat unerwartet die Führungsrolle in der Vermittlung zwischen den Konfliktparteien eingenommen. Für Kenner südosteuropäischer Beziehungsgeflechte dürfte diese Entwicklung keine Überraschung sein. Die Türkei als aufstrebende Wirtschaftsnation mit beachtlichen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in alle Himmelrichtungen, kann sich diese Aufgabe getrost anmaßen. Militärisch seit den frühen sechzigern durch Terrorismus an den eigenen Grenzen und innere politische Unruhen erfahren, lässt das Land seine Expertise nun jenseits seines unmittelbaren politischen Umfelds bewundern.

Cavusoglu spricht fließend englisch, kennt keine Kontaktängste und artikuliert ohne Befangenheit und Hemmung. Ganz anders als ein stammelnder Scholz, der seine Reden halblaut abliest. Was die Demokratie im Bundestag nicht stemmen konnte, schafft das autoritäre Präsidialsystem der Türkei. Und eigentlich hätte die Demokratie hier seinen historischen Moment gehabt. Cavusoglu ist ein Mann, der in der internationalen Politik offensichtlich gut bewandert ist. Und er wird ernst genommen. Der Türkei gelingt es, die Außenminister beider Länder nur zwei Wochen nach der russischen Offensive an einen Tisch zu bringen. Auch wenn der türkische Schlichtungsversuch zu keiner konkreten Lösung geführt hat. Ihre weltpolitische Message hat sich damit voll entfaltet. Ein „wir sind hier“- und wir sind die Türkei“- Signal und der hinterlassene Eindruck diplomatischer Kompetenz, ob nun gespielt oder gekonnt, genügen für eine nicht nur gefühlte Machtverschiebung.

Deutsche Politiker sind keine Repräsentanten mutiger Außenpolitik – und die eigene Fahne zeigt man nicht gerne (Leider)

Und ein weiteres Mal ist Deutschland dadurch ins Hintertreffen der internationalen Politik geraten. Ein Moment der historischen Peinlichkeit ungeahnter Größe brennt sich in die neuere Geschichtsschreibung ein. Man handelt doch immerhin, so war zumindest das geäußerte Gewissen unserer Abgeordneten. Ein verzweifelter Versuch, in der eigentlich gescheiterten „Prüfung Deutschlands“, wie es der Historiker Timothy Snyder nannte, das letzte bisschen Gesicht zu wahren. Es ist nicht nur die besondere historische Komplexität und die daraus tausendfach abgeleitete deutsche Verantwortung, die ein konkretes politisches Handeln schwierig machen, sondern auch die Eigenart und Kultur der politischen Realität Deutschlands, die dazu verflucht zu sein scheint, jeden notwendigen Schritt, der zugleich auch einer politischen und diplomatischen Führungsgeltung dient, in beispielloser Streitigkeit zu ertränken. Was in akuten Situationen wie diesen in voller Gestalt zu Tage tritt, gehört zum traurigen Alltag deutscher Tagespolitik.

Schlammschlachten, Kleinlichkeiten, symbolische Theatralik und hohle Imagereputation sind die neue deutsche Art des politischen Umgangs, die beinahe die Philosophie der Führungslinie auf allen Ebenen prägt. Die situative Flucht in oft belanglose Haarspaltereien generiert Probleme, die womöglich keine sind. Dafür bremsen sie im Dienste der Feigheit konstruktive Initiativen aus. Mut ist kein Attribut deutscher Außenpolitik. Und deutsche Politiker, keine Repräsentanten mutiger Außenpolitik. Jetzt zumindest nicht. Die sich durch die Bundesdebatten ziehende chronische Krankheit aufgedunsener Reden ohne essenzielle Bedeutung, trat im Ukraine-Konflikt endlich zu Tage. Deutschland – ein Land, dessen gesunde Portion an Solidaritätsgefühl und Nationalbewusstsein vollends abhanden zu gehen droht. Die Fahne zeigt man ungern. Schon gar nicht auf der politischen Bühne.

Deutschland hat Vieles zerstört, aber auch viel Gutes vollendet. Trotzdem leidet das Land an einem erkrankten Nationalbewusstsein.

Das Gefühl des Deutschseins und mit ihr das Handeln auf globaler Ebene ist eine prekäre Angelegenheit. Man hat aufgehört, Werte, die durchaus als starkes und verantwortungsbewusstes Handeln unter deutscher Flagge gezeigt werden dürfen und jene der Schande aus der Geschichte zu trennen. Sie alle gehören zum erkrankten Nationalbewusstsein, ohne die feinen Differenzierungen von Hier und Jetzt. Einer der in Erscheinung tretenden Formen dieses Leids ist eine verbissene Friedenspolitik, welche aus dem eigenen Trauma heraus, einer zum Paradigma gewordenen Außenpolitik folgt. So gut wie die deutsche Gesellschaft im Umgang mit der eigenen schändlichen Geschichte glänzt, scheitert sie auch mit der Anerkennung ihres eigenen wertvollen Erbes an die Weltgemeinde. Denn die deutsche Verantwortung, die in Konflikten wie in der Ukraine erwartet wird, erfordert ein über das politische Denken hinausgehenden gesunden und trennenden Rückblick auf das, was Deutschland für ein menschenwürdiges Leben bislang geleistet hat. Eine Kompilation vom Scheitern und Meistern seit dem Ende der Dritten Reichs, das die Meilensteine zur schrittweisen Bildung einer geeinten Nation beschreibt.

Vieles ist zerstört worden, aber viel Gutes auch vollendet. Denkkunst, Technologie und die Ermöglichung des Friedens. Ja, Deutschland hat schreckliche Kriege geführt und gemordet. Und das ist ohne Zweifel ein Abschnitt der Unmenschlichkeit. Deutschland hat aber auch irgendwann damit begonnen, das Leben auf dieser Welt maßgeblich angenehmer zu machen. Dazu gehören das weltweite soziale Engagement und die Gestaltung der Europäischen Union genauso, wie die Aufnahme von Flüchtlingen und Gastarbeitern und friedensschaffende Beziehungen zu anderen Nationen. Deutsche brauchen sich keineswegs zu schämen, unter ihrer Flagge Gutes zu tun. Schließlich erwächst die Stärke dieser Nation aus dem soliden Geschichtsbewusstsein und der Fähigkeit, richtige Entscheidungen konsequent umzusetzen. Und wenn es als letzter Ausweg der Krieg ist, der die Demokratie wiederherstellen soll. Die Französische Revolution forderte Millionen Tote und der Zweite Weltkrieg ebenso. Aber sie führten zur Geburt einer neuen Epoche der Menschlichkeit. Zum Aufblühen von Kunst, Kultur und Fortschritt. Zu einem besseren Dasein.

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