Meinung

Beleidigt sein kann Jeder. Und am besten Gen Z.

Von Halil Celiksoy. Ich mach Stress im Netz.

Das Erreichen von Menschen war früher noch eine Kunstfertigkeit

Vor dem Siegeszug der sozialen Medien war das „sich öffentlich profilieren“ eine multikreative Angelegenheit. Wollte man sich der politischen Karriere widmen, brauchte es echte soziale Kontakte, einen Sinn für die Bedürfnisse der Öffentlichkeit, Kenntnisse über Sozialisierungsmechanismen und ein breites Wissensspektrum, um die politischen Ambitionen in die richtige rhetorische Form zu gießen. Das Erreichen von Menschenmassen war eine Kunstform aus Weitsicht, Fingerspitzengefühl und Nähe zur sozialen Wirklichkeit. Nicht zuletzt war auch der angemessene Umgang mit empfindlichen Themen ausschlaggebend. Heute kann sich jeder über Nacht zum führenden Akteur einer beliebigen Bewegung hochbrüllen. Wichtig ist nur die klare Definition einer vermeintlichen Ungerechtigkeit, die Erfindung eines polarisierenden und schuldzuweisenden Begriffs (Querdenker, Schwurbler), der mit einem Hashtag durch den Dschungel des Algorithmus gejagt wird und schon kann der Kampf Gut gegen Böse beginnen. Gutmenschen gegen Schwurbler. Geimpfte gegen Ungeimpfte. Pride-Radikalisten gegen rechtskonservative Kritiker.

Wir brauchen vorgefertigte Handlungsmuster, denen wir brav und gehorsam folgen können. Denn alleine kämpfen müssen wir schon lange nicht mehr

Dabei muss die begriffliche Definition der antagonistischen Seite nicht einmal aus der eigenen Erkenntnis, Erfahrung oder einer in sich stimmigen Hypothesenbildung resultieren. Denn wie es so ist, tappt jeder mal im Laufe seines digitalen Lebens in die richtige Bubble. Und dort wird einem alles geliefert, was für eine ideologische Schlacht im popkulturellen Krieg der digitalen Weltretter benötigt wird. Was hätte das Leben auch für eine Bedeutung, wenn man nicht mit Wurfspeer und Schleuder gegen die politisch-ideologischen Gegner vor geht. Die Bildung unseres öffentlichen Ichs ist derart abhängig von Schlachtrufen und der Schlacht an sich. Wir brauchen vorgefertigte Handlungsmuster, denen wir brav und gehorsam folgen können. Denn alleine kämpfen müssen wir schon lange nicht mehr. Die Konventionen und Regeln liefert uns unsere wütende Anhängerschaft. Die Dynamik des Internets rudert in letzter Zeit von einem Irrsinn ins andere. Die Vermutung, dass es den meisten Menschen einfach nur an echten Nutzungsmotiven und eigenen Leidenschaften fehlt, drängt sich da unweigerlich auf.

Wertewandel mit Terror, Aufschrei und gekonnter Parole

Sozialisierung und Kollektivismus ist in unserer DNA geradezu festgelegt. Mit dem Internet ist das in der Folge aus den Fugen geraten. Kollektivwut, Kollektivbeschimpfung, Kollektividee und das kollektive Beleidigtsein. Jetzt wo der Wohlstand seine Höchstform erreicht hat, muss man sich dem kollektiven Irrsinn der desorientierten Sinnsuche geben. Eine wachsende Anzahl an Identitären hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen epochalen Wertewandel herbeizuführen. Nicht mit Kommunikation und Gelehrsamkeit. Mit Terror, Aufschrei und stumpfsinniger und gekonnter Parole. Von einem solchen Einfluss linker Identitärer schreibt auch die Französin Caroline Fourest in ihrem Buch „Generation beleidigt: Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“. Fourest ist Journalistin, Feministin und Herausgeberin des Magazins Pro Choix. Man kann ihr viel vorwerfen. Sicher aber nicht, dass sie sich gegen Vielfalt, Gleichstellung und Anti Rassismus stellt. Eine Passage in ihrem Buch macht dies deutlich: „Meine ersten Schlachten schlug ich gegen Sexismus, Homophobie und Rassismus“ und weiter: „Der Kampf für die Gleichheit hat mich geprägt, doch dem für die Freiheit bleibe ich innigst verbunden.“

„Die neue Generation denkt nur noch daran, zu zensieren, was sie kränkt oder beleidigt“

Die Anregung zur Verfassung ihres Werks „Generation beleidigt“ führt die Autorin auf ein Ereignis zurück, das ihr gemeinsam mit einer Autorin widerfuhr, mit der sie die Publikation einer Buchreihe auf den Weg brachte. Unter dem Titel „Unsere Heldinnen“ wollte man vergessene Frauen wieder zum Leben erwecken. Enthalten darin war auch ein Aufsatz der Bürgerrechtlerin Claudette Colvin, eine der ersten schwarzen Frauen, die sich geweigert hatten, ihren Platz in einem Bus einem Weißen zu überlassen, lange vor Rosa Parks. Das Werk sollte auch als Comic herausgebracht werden. Doch die Verkaufsleiterin des Verlags wollte das Buch aus Sorge wegen des Vorwurfs der kulturellen Aneignung nicht „Noire“, also „Schwarz“ nennen. Der absurde Grund: Die Zeichnerin ist weiß. Doch die Verlegerin kam schließlich zur Vernunft und das Buch durfte den Titel „Noire“ tragen. Das Buch „Generation beleidigt“ führt viele Ereignisse an, in denen man die ursprüngliche Bedeutung der „kulturellen Aneignung“ abgekoppelt und nach Belieben und politischer Laune deplatziert hat. Debatte und kultureller Austausch seien durch das zunehmende und vollkommen überzogene Woke-Verständnis gefährdet. Das lässt sich aus der Zusammenführung ihrer Gedanken herauslesen. Die neue Generation denke nur noch daran, zu zensieren, was sie kränkt oder beleidigt, so Fourest.

Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, sich Kulturen anzueignen, ist dem Untergang geweiht

Es ist die Rede von Safe-Spaces und die Wahrnehmung von Mikroaggression. Man sucht Zufluchtsorte der Widerstandslosigkeit, debattenfreie Zonen, in denen man sich keine Kritik oder gegenläufige Meinung mehr anhören muss. Sehr wichtig finde ich hier die Ausführung des Philosophen Clement Rosset zur „geliehenen Identität“. Die Nachahmung des anderen erlaube die Bildung der eigenen Persönlichkeit. Ob sie es erlaubt, weiß ich nicht. Es läuft jedenfalls so ab. Die jetzige Generation so Fourest, bilde sich hauptsächlich durch Nachahmung derer, die im Internet andere lynchen. Und sie führt schier endlose Beispiele auf, in denen sich Kulturschaffende und Künstler für ihre Interpretationen entschuldigen mussten: Kim Kardashian, Pharell Williams, Lana Del Rey, Jamie Oliver und Marc Jacobs. Sie alle wurden von einer Meute wild gewordener Woke-Söldner öffentlich angeprangert, beschuldigt und verurteilt. Sie alle mussten sich entschuldigen, Werke zurückziehen und erklären, dass sie keine bösen Absichten hatten. Eine Gesellschaft, in der man sich für Kunst entschuldigen muss, ist eine, die ihrer Fähigkeit der Deutung und der schöpferischen Kraft beraubt wurde. Eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, sich Kulturen anzueignen, ist dem Untergang geweiht. Denn sie wird nicht mehr befruchtet und damit wächst sie auch nicht mehr.

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